Aggressionen in Pflegeheimen

Teil 1

Prävalenzen von aggressivem Verhalten in Pflegeheimen

Es gibt ausreichend Evidenz darüber, dass die Arbeit als Pflegeperson in einer Langzeitpflegeeinrichtung mit einem hohen Aggressionsrisiko verbunden ist. Die Prävalenzraten werden in der Literatur durchschnittlich mit 60-80 % angegeben. Darüber hinaus haben Untersuchungen gezeigt, dass Pflegepersonen auf geriatrischen Stationen die dritthöchste Aggressionshäufigkeit aller klinischen Bereiche aufweisen.

Formen der Aggression

Literaturrecherchen zeigen, dass in Pflegeheimen eine Vielzahl an aggressiven Verhaltensweisen – von verbalen Aggressionen wie Drohungen und Beleidigungen bis hin zu körperlichen Aggressionen wie Treten, Beißen, Werfen von Gegenständen oder Kratzen, reicht.

Almvik et al. (2006) waren in ihrer Untersuchung überrascht, dass Spucken in der SOAS-R-Schweregradskala den zweithöchsten Schweregrad erhielt und als schwerer eingestuft wurde als das Treten oder Schlagen. Bespuckt zu werden ist per se nicht gefährlich, aber Pflegepersonen dürften dies als schwerwiegender empfinden, als mit körperliche Gewalt konfrontiert zu sein. Die Tatsache, dass dieses Verhalten mit einem so hohen Schweregrad bewertet wird, könnte ein Hinweis auf eine mögliche Demütigung sein, die das Personal durch dieses Verhalten erlebt.

Zwei alte Frauen

Arbeitskontexte in denen aggressive Verhaltensweisen häufig auftreten

Die direkte Pflege der Bewohner*innen ist der häufigste Kontext, in dem aggressives Verhalten gegenüber Pflegkräften auftritt.

Aggressives Verhalten von Bewohner*innen kommt vor allem bei körpernahen Pflegetätigkeiten vor, beispielsweise während der Unterstützung beim Anziehen, Hilfestellung bei der Körperpflege (Bade- und Duschsituationen), während der Mundhygiene, bei der Mobilisation, beim Essen/Trinken eingeben oder Unterstützung der Ausscheidung.

Die internationale Literatur weist darauf hin, dass das Betreten des persönlichen Raums einer Person – was während dieser Handlungen nicht zu vermeiden ist – besonders häufig aggressive Verhaltensweisen auslöst. Diese Pflegehandlungen können bei den Bewohner*innen zu impulsartigen, reflektorischen und wenig zielgerichteten tätlichen Aggressionen führen, welche sich z. B. durch Schlagen, Beißen und Spucken äußern können. Diese Verhaltensweisen hängen sehr eng mit den subjektiven Bedrohungsgefühlen der Betroffenen zusammen, wofür Stress und Überforderung häufig Ursachen sind.

Aggressive Verhaltensweisen bei Menschen mit Demenz

Ein Zusammenhang zwischen Demenz und aggressivem Verhalten ist einer der häufig diskutierten Aspekte, da demenzbetroffene Menschen besonders anfällig für Aggressionen sind. Mehrere Studien bestätigen einen Zusammenhang zwischen der kognitiven Beeinträchtigung der Bewohner*innen und dem Auftreten von aggressivem Verhalten.

Eine wichtige Diskussion in Bezug auf Bewohner*innen mit Demenz ergibt sich aus der Frage, wie gezielt und gewollt deren aggressives Verhalten sein kann. Bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen ist es oft schwierig, die Absicht der Person zu erkennen.

Definition von Aggression in der Langzeitpflege

Es gibt bei der Definition von Aggression in der Langzeitpflege zwei grundlegende Ansätze:

Intention der Schädigung

Aggression oder Gewalt liegt dann vor, wenn eine Handlung mit dem Ziel der Schädigung einer anderen Person oder Sache vorliegt.

Opferperspektive

Aggression oder Gewalt liegt dann vor, wenn das „Opfer“ eine Handlung als aggressiv oder gewalttätig wahrnimmt.

Wurden aggressive Handlungen bewusst gesetzt?

Astrøm et al. (2002) beschreiben in ihrer Untersuchung, dass es eine der schwierigsten Hemmschwellen für Pflegepersonen in Pflegeheimen war, einen gegen sie gerichteten Vorfall als Aggression zu interpretieren, aggressive Verhaltensweisen zu erfassen und zu entscheiden, ob die Bewohner*innen beeinträchtigt waren und/oder als vollständig verantwortlich für ihre Handlungen eingestuft werden können.

Bei den Pflegepersonen bestanden Ängste, dass die aggressiven Verhaltensweisen der Bewohner*innen durch eigene Handlungen provoziert worden sein könnten. Die Mitarbeiter*innen neigten eher dazu, Vorfälle von Aggression als unbeabsichtigt anzusehen und entschieden daher, diese Ereignisse nicht als Aggression zu werten, unabhängig von der Schwere der Handlung.

Alte Frau mit geschlossenen Augen

Aggression als Teil des Jobs?

Hände

Pflegekräfte akzeptieren Aggression oft als natürliche Folge ihrer Arbeit, als „übliches Jobrisiko“, weil die Vorkommnisse als unvermeidlich und wesentlicher Bestandteil ihrer Arbeit angesehen werden.

Internationale Studien zeigten, dass Pflegepersonen eine höhere Toleranzgrenze gegenüber Aggressionen haben, da sie diese als „Teil des Jobs“ akzeptierten. Die Pflege von Bewohner*innen mit aggressivem Verhalten in Pflegeheimen ist einer der Hauptbelastungsfaktoren für Pflegekräfte und steht in engem Zusammenhang mit erheblichen gesundheitlichen Problemen beispielsweise einer hohen Burnout-Rate.

Strategien von Pflegepersonen im Umgang mit aggressivem Verhalten

Als Strategien, welche Pflegende mit dem Ziel aggressives Verhalten frühzeitig zu erkennen oder zu verhindern einsetzen, wurden z. B. die Beobachtung der Stimmung der Bewohner*innen, das Achten auf auffällige Merkmale im Verhalten, die Wahrnehmung der Patient*innenwürde, Wachsamkeit und Intuition einsetzen, genannt. Des Weiteren wurde berichtet, dass die Unterstützung der Bewohner*innen in der Wahrnehmung ihrer Rechte und ihrer Entscheidungskompetenzen aggressives Verhalten verhinderte.

Beruhigende und deeskalierende Strategien

Alter Mann und junge Frau lächeln

Beruhigende und deeskalierende Strategien, die zu Beginn der ersten Anzeichen von aggressivem Verhalten eingesetzt wurden, sind zum Beispiel Gespräche mit den Bewohner*innen zu führen, deren Wünsche und Bedürfnisse berücksichtigen, die Perspektive der/des Bewohner*in einnehmen und die Gründe für aggressive Verhaltensweisen herausfinden, wobei biografische Daten einzubeziehen sind.

Empfehlungen

Als grundlegende Intervention wird der Einsatz einer „verstehenden Diagnostik“, welche die Perspektive der Bewohner*innen mit aggressivem Verhalten in den Mittelpunkt des Pflegeprozesses stellt, empfohlen. Ziel dieser ist, das Verhalten der Bewohner*innen zu verstehen und die Gründe für ihre Aggression zu identifizieren.

Der Prozess der Anwendung einer „verstehenden Diagnostik“ kann mit Hilfe des Need-Driven, Dementia compromised Behaviour Model (NDB-Modell) durchgeführt werden.

Dieses Modell und auch andere Modelle werden in unserem nächsten Blog beschrieben.

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