Das Konzept des guten Grundes
Teil 2
Autorin: Nicole Matzinger
Schauen wir uns die drei Beispiele an
Im ersten Teil meines Blogs habe ich mit dem Konzept des guten Grundes eine mögliche Grundhaltung beschrieben, die wir im Kontakt mit Mitmenschen einnehmen können und die gelingende Kommunikation erleichtern kann. Dabei habe ich zum Ende des Blogs drei Beispiele aufgezählt, bei welchen das Konzept angewendet werden könnte.
Sie erinnern sich? Die Freundin die sich zurückzieht, der Nachbar der uns suspekt ist wegen seinem Verhalten und der neue arrogante Freund der Schwester.
Im 2. Teil des Blogs möchte ich mit Ihnen Überlegungen anstellen zu den Gründen, die dahinter stecken könnten sowie zu den „Grenzen des guten Grundes“.
Das Verhalten der Freundin
Die Freundin, die zu den letzten Treffen nicht erschienen ist, könnte das gemacht haben weil:
- … sie in den letzten Wochen oft spontan Überstunden gemacht hat und deshalb ausgelastet ist.
- … sie letztens Streit mit einer Freundin aus der Gruppe hatte und sie nicht sehen möchte.
- … sie streng geheime Pläne ausheckt um die Weltherrschaft an sich zu reißen.
- … sie Geldsorgen hat und nichts im Lokal ausgeben möchte, in dem sich der Freundeskreis trifft.
- … ihre Mutter krank ist und viel Unterstützung und dadurch Zeit von ihr braucht.
- … ihr rosarote Hörner auf der Stirn wachsen und sie sich dafür schämt.
- … sie eine depressive Episode hat und sich nicht aufraffen kann.
- … sie sich in der Gruppe nicht mehr so wohl fühlt wie früher und weniger Wert auf die Treffen legt.
- … sie nicht aufhören kann sich eine Episode ihrer Lieblingsserie nach der anderen anzusehen.
- … sie heimlich ein Drogenlabor führt, in dem es in letzter Zeit vermehrt zu Zwischenfällen gekommen ist welche nur sie persönlich regeln konnte.
- …..
Sorgen machen die Freundin schlaflos
Diese Liste könnte wohl endlos fortgesetzt werden.
Da es sich um eine Freundin handelt taucht wahrscheinlich die Idee auf, den Grund zu erfragen (auf eine hoffentlich nicht vorwurfsvolle oder fordernde sondern interessierte Art und Weise). In einem Gespräch mit ihr stellt sich vielleicht heraus, dass sie verschiedene Sorgen hat, die sie kaum schlafen lassen. Deshalb ist sie oft kraft- und energielos und kommt abends nicht mehr vom Sofa hoch, so wie sie es sich vorgenommen hätte für die Abende im Freundeskreis.
Ein verständlicher Grund?
Das Verhalten des Nachbarn
Da zum Nachbarn keine freundschaftliche Beziehung besteht schickt es sich womöglich nicht ihn nach dem Grund zu fragen, warum er seine sauberen Schuhe so oft poliert und die schon verschlossene Tür immer wieder auf- und zusperrt. Auch hier kann davon ausgegangen werden, dass es einen guten Grund dafür gibt.
Das Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit könnte dahinter stecken und / oder eine Zwangserkrankung, die er aufgrund seiner Vorgeschichte entwickelt hat. Betroffene leiden unter solchen Handlungen, die sie nicht unterlassen können und verstehen sich oft selbst nicht, schämen sich dafür, wissen sich nicht zu helfen.
Wenn kurz darüber nachgedacht und versucht wird sich in ihn hineinzuversetzen, so finden sich wohl eher keine Gründe mehr, über das Verhalten Witze zu machen oder den Nachbarn für dumm zu halten
Das Verhalten des Freundes der Schwester
Und der neue arrogante Freund der Schwester?
Das Beispiel von jemanden, der für arrogant und überheblich gehalten wird ist mir ein besonderes Anliegen, da ich es nicht selten erlebt und dabei erfahren habe, dass es sich durchwegs um Menschen handelt, die einen (eher) geringen Selbstwert haben und sehr unsicher sind in der Situation in der sie sich befinden. Das möchte nicht offen gezeigt sondern überspielt werden und das Verhalten welches dabei entsteht wird oft wahrgenommen als arrogant, überheblich und ähnliches.
Wenn beim Kennenlernen des Freundes der Schwester daran gedacht wird, dass er so wirken könnte weil er sehr unsicher ist, entstehen neue Möglichkeiten darauf zu reagieren (die eine positive Entwicklung unterstützen können).
Weniger beurteilen, mehr Verständnis zeigen
Wenn in der Praxis davon ausgegangen wird, dass jeder immer einen guten Grund hat für sein Verhalten, so ergibt sich daraus automatisch, dass weniger beurteilt und bewertet und mehr Verständnis ge- und erlebt wird.
Wem das möglich ist, der wird einen besseren Zugang zu Mitmenschen finden können, sich weniger den Kopf über andere zerbrechen und sich weniger über ‚Gott und die Welt‘ ärgern.
Wer mit Menschen zusammenarbeitet wird immer wieder mit herausfordernden Verhaltensweisen konfrontiert sein, denen sie/er mit der Annahme des guten Grundes begegnen kann um dadurch handlungsfähig, empathisch und gleichzeitig authentisch bleiben zu können.
Durch diese Grundhaltung kann es überhaupt erst möglich werden, dass Menschen die schlimme Verbrechen begangen haben wohlwollend betreut werden können.
Vielleicht kennen Sie den Spruch „Beurteile nie einen Menschen bevor du nicht mindestens einen halben Mond lang seine Mokassins getragen hast!“, und wahrscheinlich werden hier die meisten von uns zustimmend nicken.
Wir können uns die Frage stellen: Wenn ich in den Mokassins der/des Schwerverbrecher*in herangewachsen wäre, hätte ich dann gleich gehandelt wie sie/er als sie/er das Verbrechen beging?
Die Grenzen des guten Grundes
Der Gedanke an das Schwerverbrechen erinnert mich daran, was ich auf keinen Fall unerwähnt lassen möchte: „Die Grenzen des guten Grundes“, denn hier kann es schnell zu Missverständnissen kommen.
Man könnte meinen, dass jedes Verhalten entschuldigt oder gar gutgeheißen werden kann, wenn man anderen immer mit der Annahme des guten Grundes begegnet.
Doch das soll keineswegs das Ziel des Konzeptes sein sondern vielmehr ein Verständnis, um damit Zugang zu finden und im weiteren Veränderung zu ermöglichen wobei es überaus wichtig ist, klare Grenzen zu setzen, sich auch klar zu positionieren und Stellung zu beziehen zu grenzüberschreitendem Verhalten.
Verstehen heißt nicht Verzeihen
Denn sonst würde der/dem Einbrecher*in sofort verziehen, da sie/er sich in Geldnot befand sowie der/dem Gewalttäter*in, die/der zuschlug weil sie/er nicht anders mit ihrer/seiner Überforderung und Wut umzugehen wusste.
Und es kann schließlich nicht Aufgabe eines Opfers sein Verständnis zu haben für die/den Gewalttäter*in, die/der es verletzt hat.
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