Die Würde und die Psychiatrie

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Autorin: Karin Krempl

Ein Denkanstoß für eine Selbstreflexion und/oder für einen Diskurs mit Kolleg*innen.

Sie ist zu achten und zu schützen und sie ist nicht verhandelbar!
Und doch muss sie immer wieder aufs Neue verteidigt werden: die Menschenwürde.

Aber was bedeutet Würde eigentlich?

Wie wird „Würde“ im beruflichen und privaten Umfeld gelebt?

Das durch die COVID-Pandemie geprägte letzte Jahr hat vielen Menschen verdeutlicht, was die bisher als selbstverständlich empfundene Freiheit bedeutet und wie es sich anfühlt, wenn diese eingeschränkt wird.

Aber wieviel Einschränkung sind wir bereit zuzulassen und wie verhält es sich damit, wenn ein gewisser Spielraum vorgegeben wird und eigenverantwortlich gehandelt werden soll? Wie schnell sind wir in Versuchung diese Einschränkungen für unsere persönlichen Bedürfnisse in Einzelbereichen zu dehnen? Wie achtsam sind wir im Umgang mit Menschen in unserer Umgebung, wenn sich jemand aus der Norm bewegt?

Wenn es uns im Alltag schon schwer fällt andere Meinungen und Ängste tolerant anzunehmen (z.B.: persönliche Meinungen zur Corona Impfung, ob Maskenpflicht als Menschenrechtsverletzung zählt), wie geht es dann unserer Gesellschaft im Umgang mit psychisch kranken Menschen, welche in ihrer Krise manchmal für uns sehr schwer nachvollziehbare Regelverstöße oder Verhaltensweisen zeigen?

Viele Menschen hinter einer Holztüre

Sicherheit durch Einschränkungen

Alte Frau mit geschlossenen Augen

Grundsätzlich wird im klinischen Alltag für Sicherheit gesorgt. Dies geschieht gelegentlich auch durch Einschränkungen der Eigenverantwortung von Patient*innen. Wenn beispielsweise eine/ein Patient*in immer wieder stürzt und hohe bzw. schwerwiegende Verletzungsgefahr besteht, werden Maßnahmen getroffen, dass keine weiteren Stürze mehr stattfinden können. Im schlimmsten Fall wird dies auch mit Beschränkungen, welche die körperliche Mobilität einschränken, durchgesetzt. Die Menschengruppe die für Sicherheit sorgen möchte, schränkt den gefährdeten Menschen ein.

Werden diese Einschränkungen nur für die Sicherheit der/des sturzgefährdeten Patient*in durchgesetzt oder auch für die Sicherheit und das „gute Gefühl“ des Personals oder der Angehörigen? Wie lange und bis zu welcher Maßnahme ist es würdevoll?

Ist der Schutz – die Unterbringung in der Psychiatrie – wie sie gelebt wird, zeitgemäß?

Unter Unterbringung wird hier der geschützte, geschlossene Bereich verstanden.

Wenn die Welt der Normalität mit einer bunten psychotischen Welt in Berührung kommt, löst dies oft Angst oder Unbehagen bei Menschen aus. Eine Angst vor Menschen die Dinge sehen, hören, riechen und/oder spüren die andere nicht wie sie wahrnehmen.

„Könnt ihr nicht besser auf die Menschen aufpassen?“ ist eine der Fragen die gestellt werden, wenn eine/ein Patient*in in sich versunken und starr wirkend im Gelände des Klinikums herumwandert.

 

Es scheint als würde bereits die Anwesenheit, das Anderssein von Menschen die nicht ins normale Bild fallen, Unruhe und Unsicherheit verursachen.

Wenn diese Menschen dann Taten setzen, welche sie selbst oder das Umfeld gefährden könnten, kommt es in vielen Fällen dazu, dass ein Gutachten von einer/einem Psychiater*in oder Amtsärzt*in eine Einweisung in einen „geschützten Bereich“ veranlasst. In der psychiatrischen Klinik wird dieser Bereich „Unterbringungsbereich“ genannt.

Was jedoch irritierend ist, ist die Tatsache, dass dieses Szenario in Österreich unterschiedliche Settings bietet.

Unterschiede zwischen Ost und West in Österreich

Im Osten von Österreich gibt es seit vielen Jahren keine Unterbringungsbereiche mit geschlossenen Türen. Die Patient*innen sind wohl „untergebracht“ und dürfen somit nicht alle Entscheidungen eigenständig treffen, sie sind jedoch wie alle anderen Patient*innen auf Stationen versorgt, die sich räumlich nicht von anderen Stationen unterscheiden.

Der westlichere Teil Österreichs arbeitet hingegen mit getrennten Bereichen. Eine geschlossene Tür hält untergebrachte Patient*innen vom Verlassen der Station beziehungsweise der Klinik ab. Obwohl die Gesetze zu freiheitseinschränkenden Maßnahmen sehr streng wirken, ist Handlungsspielraum und individuelles Einschätzen ein maßgeblicher Part.

Wie weit sollten wir gehen um jemanden zu schützen bei dem wir nicht sicher sind ob der Schutz gewünscht ist? Kann die Vorgehensweise individuell von der/vom Abteilungsleiter*in entschieden werden oder ist es eine politische Anordnung?

Wie fühlt es sich aus Sicht der Patient*innen an?

Welche der beiden Szenarien bietet nun den würdevolleren, zeitgemäßen Schutz?

Oberflächlich betrachtet wird schnell das Urteil gefällt, dass die offenere, nicht so reglementierende Versorgung auf normalen Stationen eindeutig der einschränkenden Variante vorzuziehen ist. Im praktischen Arbeiten stellt sich jedoch heraus, es ist wie alles im Leben mit Vor- und Nachteilen behaftet.

Der geschlossene Bereich

Im abgetrennten Unterbringungsbereich können sich die Patient*innen sehr frei auf der Station aufhalten. Da sie selbständig die Tür nicht öffnen können, ist der Bereich bis zur Tür gut nutzbar. Die Abgrenzung ist somit deutlicher geregelt und wird von den Patient*innen oftmals als „sicherer“ oder gar beruhigend erlebt.

Häufig können Patient*innen sich nach einer schweren Krise nicht bewusst daran erinnern, im geschützten Bereich gewesen zu sein. Solche Krisen werden oftmals mit den Worten „Ich habe den Boden unter den Füßen verloren“ beschrieben. Auch nach wochenlangem Aufenthalt im Unterbringungsbereich fehlt auf der offenen Abteilung manchmal die Erinnerung daran.

Frau sitzt auf Sessel

Der offene Bereich

Mann schaut Frau nach

Im „offenen Bereich“ ist vom Personal gefordert, die Patient*innen zu beobachten, sie im „Auge zu behalten“, ein Weggehen von der Station oder der Einrichtung muss erkannt oder verhindert werden. Je nach Zustand der Patient*innen gibt es die Möglichkeit eine Tür zu versperren, Begleitung anzubieten, sie im positiven Kontakt zu halten, ihre Bedürfnisse zu erkennen und bestmöglich darauf zu reagieren. Die Durchführung scheint schwieriger, da es dabei oft zu Beschimpfungen, Verkennungen, Drohungen und Tätlichkeiten wie einem zur Seite stoßen des Personals durch die Patient*innen kommt.

Die Patient*innen werden unter Umständen von der Polizei gefahndet, wenn sie nicht mehr auffindbar sind, was wiederum als sehr traumatisch für alle Beteiligten erlebt werden kann.

Würde leben

Auch die Menschen außerhalb von psychiatrischen Abteilungen wissen nach diesen Monaten der Pandemie wie es sich anfühlt, wenn die persönliche Freiheit eingeschränkt wird. Das Ziel sollte nun durch diese Erfahrungen sein, umsorgender auf Menschen zuzugehen und die Herausforderungen empathischer anzunehmen.

Ein denkbar wertvoller Weg dabei wäre es, die verschiedenen Settings mit den betroffenen Menschen selbst zu reflektieren, sobald es ihnen besser geht und aus ihren Erfahrungswerten unser künftiges Handeln zu gestalten.

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