Vorsicht, Ansteckungsgefahr!
„Ich fühle was du fühlst“
Autorin: Nicole Paulus
„You can close your eyes for something you don´t want to see, but you can´t close your heart for something you don´t want to feel“
Menschen, die in helfenden Berufen tätig sind, setzen sich mit den Lebensereignissen ihrer Patien*innen, Klient*innen, Bewohner*innen usw. auseinander. Auf diese Weise werden sie mit Gewaltereignissen, Missbrauchserfahrungen, infausten Diagnosen, dramatischen Unfällen, Mobbing, Flucht- und Migrationserfahrungen und Schicksalsschlägen konfrontiert.
Dass diese Erfahrungen Spuren auf der Seele der Helfer*innen hinterlassen können ist häufig nicht bekannt oder wird weitgehend ignoriert.
Sekundäre Traumatisierung oder Compassion fatigue?
Für compassion fatigue finden sich in der Literatur eine Vielzahl von Synonym verwendeten Begriffen wie Secondary Traumatic Stress Disorder (PTSD), Vicarious Traumatization, Mitgefühlserschöpfung oder „a cost of caring“. Eine Vereinheitlichung lässt auf sich warten.
Wie häufig Menschen in „helfenden“ Berufen betroffen sind, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, da die Symptome der sekundären Traumatisierung unspezifisch sind und auf den ersten Blick mit Belastungsreaktionen oder einem Burnout verwechselt werden können.
Welche Sympotmatik zeigt sich
Akute Symptomatik:
Intrusionen, ausgeprägtes Vermeidungsverhalten (!)
Chronische Symptomatik:
Erschöpfung, Leistungsabfall, Meidung sozialer Kontakte, Gefühlsschwankungen, Ärger, Wut, veränderte Weltanschauung, reduziertes Sicherheitsgefühl, Zynismus, Distanziertheit aber auch Verleugnung, Verharmlosung der Traumata, Blame the victim.
Häufig wird, vor allem das Vermeidungsverhalten, als Desinteresse oder mangelndes Engagement der Betroffenen fehlinterpretiert.
Schwierigkeit das Phänomen zu benennen
Die Diagnosestellung ist auch deshalb schwierig, weil dieses Phänomen sich in keinem der gängigen Diagnosekataloge (ICD-10; DSM-IV) wiederfindet.
ICD-10: Internationale statistische Klassifikation der Krankheitenen und verwandter Gesundheitsprobleme
DSM-IV: Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen
Zumindest bietet der DSM-IV die Möglichkeit, die sekundäre Traumatisierung unter der Diagnose Posttraumatic Stress Disorder (PTSD) einzuordnen:
Die Diagnose
„Traumatische Ereignisse, die bei anderen Menschen auftraten und von denen man erfahren hat, umfassen, ohne auf diese beschränkt zu sein: gewalttätige persönliche Angriffe, schwere Unfälle oder schwere Verletzungen, die einem Familienmitglied oder einer nahestehen Person zugestoßen sind, vom plötzlichen, unerwarteten Tod eines Familienmitglieds oder einer nahestehenden Person zu hören oder zu erfahren, dass (sic!) das eigene Kind an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidet.“
Erstmals wird in einem Diagnosemanual beschrieben, dass sowohl Ereignisse denen Personen direkt ausgesetzt waren aber auch solche die beobachtet wurden oder von denen man gehört hat, für die Person derart traumatisch sein können, dass das die Entwicklung einer sekundären Traumatisierung möglich ist.
Einschränkend muss gesagt werden, dass sich der DSM-IV auf Berufsgruppen mit einem erhöhten Risiko, Rettungskräfte, Polizeibeamt*innen usw. bezieht. Jene Helfer*innen, die keinen direkten Bezug zu einem traumatischen Ereignis haben, sind in den Diagnosemanualen nicht erfasst.
Empathie als Voraussetzung aber auch ein Risikofaktor?
Grundvoraussetzung, um in Gesundheits- und Sozialberufen arbeiten zu können, ist Empathiefähigkeit. Die Tätigkeit in einem helfenden Beruf, bzw. fortgesetztes empathisches Verhalten gehen zwar nicht zwingend mit der Entstehung einer sekundären Traumatisierung/Compassion fatigue einher, dennoch besteht ein Zusammenhang zwischen den Rahmenbedingungen, unter denen der Beruf ausgeübt wird, der Biografie, persönlichen Faktoren der Helfer*innen und dem Ausmaß sowie der Dauer und Intensität der Exposition.
Entstehungsprozess
Wenn ein Mensch, der ein dramatisches Ereignis berichtet von einem anderen Menschen beobachtet wird, so wird durch diese Erzählung die Fantasie der zuhörenden Person angeregt, der Film im Kopf beginnt zu laufen. Mit den Bildern, können in den Beobachtern Gefühle und Emotionen entstehen, gerade so, als ob sie die Situation selbst erlebt hätten. Wie ausgeprägt die Reaktion der Zuhörer*innen ist, hängt von deren Disposition, Persönlichkeit, Emotionsregulationsfähigkeit, Biografie uvm. ab. Empathisches Verhalten kann in dieser Situation zwei entgegengesetzte Wege einschlagen:
Man zeigt Mitgefühl
Erkennt die beobachtende Person, dass das eben Gefühlte nicht der eigene Gefühlsstatus ist, kann sie sich in Form von Mitgefühl (compassion), Sympathie (sympathy) oder empatischer Sorge (empathic concern) dem Gegenüber zuwenden. Das bedeutet, sie handelt prosozial, um das Leiden des Gegenübers zu reduzieren.
Empathie ist dann eine Mitgefühlsreaktion die dazu dient, sich mit der Situation des anderen zu verbinden, um Unterstützung zu ermöglichen.
Hohe Empathiefähigkeit wird zu Distress
Kommt es jedoch zu einer regelrechten „Ansteckung“ mit den Gefühlen bzw. der Situation des Gegenübers kann die erlebte Emotion zu Distress führen, der sich, letztlich gegen die helfende Person wenden kann.
Angesteckte Helfer*innen werden zukünftig versuchen, die Gefühle zu vermeiden, indem Situationen, Erfahrungen, Kontakt mit bestimmtem Menschen umgangen oder eben vermieden wird.
Kann dies nun als Zeichen von mangelnder Professionalität gewertet werden? Nein. Im Gegenteil. Die zuvor beschriebenen „Ansteckung“ ist ein Hinweis auf eine besonders hohe Empathiefähigkeit und somit eine erwartbare, natürliche Reaktion auf eine außergewöhnliche, pathologische Information.
Neurobiologische Faktoren bei einer Sekundären Traumatisierung
Sie besteht aus Empathie, Kindling und Dissoziation
Empathie
Auch zu diesem Fachbegriff, gibt es bislang keine vereinheitlichte Definition. Rogers versteht darunter, die Fähigkeit „die innere Welt von Menschen“ so zu spüren, als wäre es die eigene. Die Fähigkeit zur Gefühlswahrnehmung bei unseren Mitmenschen wird mithilfe der Spiegelneuronen ermöglicht.
Kindling
Die Emotionsverarbeitung erfolgt im Gehirn durch die Amygdala. Wird das Gehirn nun ständig mit traumatischen bzw. pathologischen Informationen konfrontiert und damit überfordert, kommt es zur Sensitivierung (kindling).
Dissoziation
Sie tritt als eine Art Notfallsreaktion auf. Der andauernde Alarmzustand der Amygdala, als Reaktion auf traumatisierende Informationen führt dazu, dass auf emotionale Taubheit und Autopilot umgeschaltet wird
Empfehlungen zur Gesprächsführung bzw. Interaktion in helfenden Berufen
Um die persönliche Identifikation mit Lebensereignissen im Beruf etwas zu reduzieren, bzw. um eine vollkommende emotionale Beteiligung zu verhindern, sind folgende Empfehlungen hilfreich:
- Vermeiden Sie eine unbewusste Imitation ihres Gegenübers (Sitzhaltung, Gesichtsausdruck, Atemrhythmus).
- Sagen Sie sich innerlich Sätze vor wie: „Ich bin nicht diese Person“, „Das ist nicht mir passiert“, „Ich kann nur helfen, wenn ich auf mich achte“ usw.
- Während der Gespräche belebende Getränke in Reichweite platzieren: Schwarzer oder gesüßter Kaffee, Tee, Mineralwasser mit Zitrone
- Scharfe Bonbons unauffällig lutschen (Größe beachten)
- Die Zehen/Fußsohlen fest auf den Boden drücken
- Für kurze Zeit den Atem anhalten oder einige Male tief durchatmen
- Während des Gesprächs den Blick für kurze Zeit auf etwas Schönes richten (Bilder, Ehering, persönliche Gegenstände, Baum usw.)
- Begeben Sie sich für wenige Augenblicke auf einen kognitiven „Balkon“ und genießen Sie die Aussicht auf schöne Erinnerungen
- Nach belastenden Gesprächen den Raum nach Möglichkeit lüften bzw. verlassen, informelle Gespräche führen, sich etwas Gutes tun.
Schutz vor einer Traumatisierung durch Wissen
Die Sekundäre Traumatisierung bzw. compassion fatigue muss auf der einen Seite nicht zwangsläufig auftreten, kann auf der anderen Seite aber auch nicht zu hundert Prozent verhindert werden. Menschen, die in helfenden Berufen tätig sind, sollten über dieses Phänomen informiert werden und im Rahmen von Selbstreflexionen usw. ihren subjektiven seelischen Zustand kritisch screenen. Unterstützend sind standardisierte Fragebögen wie der FST© (Fragebogen zur Sekundären Traumatisierung) oder der ProQuol Fragebogen (Professional Quality of Life Measure), beide sind in deutscher Sprache, kostenlos im Internet verfügbar.
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