Das Konzept des guten Grundes
Teil 1
Autorin: Nicole Matzinger
Ergibt jegliches Verhalten einen Sinn?
Bei der Vorbereitung für einen Workshop zum Thema Traumatisierung stieß ich vor ein paar Jahren auf etwas für mich Neues, auf etwas ganz Wunderbares! In einem Buch über die soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen fand ich das „Konzept des guten Grundes“.
Es besagt, dass wir immer davon ausgehen können, dass jegliches Verhalten aus dem inneren System des Menschen heraus einen Sinn ergibt.
Ich bin Feuer und Flamme für dieses Konzept, welches meiner Meinung nach eine sehr wichtige Grundhaltung beschreibt und zusammenfasst, die wir nicht nur im Sozialbereich sondern ebenso in unserer gesamten Gesellschaft brauchen können, für ein wertschätzendes Miteinander und für eine gelingende Kommunikation.
Wir sind das Produkt unserer Sozialisation
In der Theorie wird dieses Konzept hauptsächlich für die Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen mit auffälligen Verhaltensweisen empfohlen und es geht dabei um einen verstehensorientierten Zugang, welcher möglich werden kann durch die grundsätzliche Annahme, dass wir alle ein „Produkt unserer Sozialisation“ sind und deshalb gute Gründe dafür haben, was wir machen und wie wir das tun und dafür, dass wir sind wie wir sind.
Außerdem wird davon ausgegangen, dass Menschen sich aus ihren Bedürfnissen heraus verhalten und dass hinter jedem Verhalten auch eine positive Absicht steckt.
Diese Bedürfnisse und Absichten sind oft gut getarnt und schwer zu erkennen (selbst für Betroffene).
Es handelt sich dabei zum Beispiel um die Suche nach Wertschätzung, nach Bindung oder nach Sicherheit, um Versuche die eigene Integrität zu wahren oder Kontrolle zurück zu erlangen und so weiter.
Das Verhalten von traumatisierten Menschen
Traumatisierten Menschen, die an Flashbacks oder Dissoziationen verschiedenster Art leiden und die vielleicht getriggert werden (manchmal ohne es zu bemerken) kann das Konzept des guten Grundes eine sehr große Hilfe sein.
Ihnen passiert es, dass sie zum Beispiel in einem dissoziativen Geschehen Verhaltensweisen an den Tag legen, die sie selbst gar nicht verstehen, die ihnen und ihrer Persönlichkeit nicht entsprechen, für die sie sich vielleicht sogar schämen. Wenn Betroffenen vermittelt werden kann, dass sie ganz sicher einen sehr guten Grund dafür haben, dass sie einerseits getriggert werden können und andererseits dafür, dass dann passiert was passiert, so kann das mitunter sehr entlastend für sie wirken. Denn nicht selten leiden sie unter starken Selbstzweifeln, verstehen das eigene Handeln nicht und fühlen sich unfähig, halten sich für dumm und so weiter.
Zuwendung durch negatives Verhalten
Wir kennen wohl alle die Geschichte vom Kind, welches sich laut und gehässig benimmt und die Theorie dazu, dass es dadurch Aufmerksamkeit bekommen möchte. Vielleicht wurde hier immer wieder die Erfahrung gemacht, dass es leichter ist Zuwendung und Bindung zu spüren durch negatives als durch neutrales oder positives Verhalten.
Das erscheint verständlich und nachvollziehbar und deshalb kann empathisch geblieben werden in der Begegnung mit dem Kind, die Kommunikation kann wohlwollend und liebevoll stattfinden.
Meiner Erfahrung nach fällt es bei Kindern und auch bei Jugendlichen sowie bei jenen, von denen wir wissen, dass sie traumatische Ereignisse durchleben mussten oder dass sie psychiatrische Diagnosen haben etwas leichter, Bedürfnisse und Absichten hinter scheinbar schwer verständlichen Verhaltensweisen sehen und entsprechend darauf reagieren zu können als bei Erwachsenen von denen wir keine Hintergrundinformationen haben.
Schauen wir uns drei Beispiele an
- Unsere Freundin, die sich mehr und mehr aus dem Freundeskreis zurückzieht finden wir komisch. Und da sie jetzt schon zum 3. Mal kurzfristig abgesagt hat sind wir sauer und beschließen sie nicht mehr einzuladen und vorerst heben wir auch nicht mehr ab, wenn sie anruft.
- Den Nachbarn, der jedes Mal, wenn er die Wohnung verlässt noch mehrmals umdreht um seine (sauberen) Schuhe zu polieren und dann wiederholt kontrolliert, ob die Wohnungstür tatsächlich verschlossen ist, den finden wir schrullig. Manchmal erzählen wir von ihm unter Kolleg*innen und dann halten wir ihn schon für ein bisschen suspekt und machen uns lustig über ihn. „Für voll nehmen“ können wir ihn auf jeden Fall nicht.
- Der neue Freund der Schwester: überheblich und arrogant! Immer unterbricht er andere um sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Er weiß alles besser und nervt!
Gab es für diese Verhaltensweisen einen guten Grund?
Wenn diese drei Beispiele mit der Annahme eines guten Grundes betrachtet werden, so können sich neue Sichtweisen eröffnen.
Einerseits besteht die Möglichkeit, nicht über diesen guten Grund nachzudenken und einfach davon auszugehen, dass es einen solchen gibt. Sogar wenn eine Verhaltensweise gar nicht verständlich und nachvollziehbar erscheint ist das gut machbar, auch wenn es möglicherweise ein wenig Übung bedarf.
Statt vorschnell zu bewerten und in Schubladen zu stecken kann nachgedacht werden über mögliche Gründe, Bedürfnisse und Absichten. Wie in einer Art Brainstorming werden Ideen (auch abwegig oder absurd erscheinende) gesammelt.
Erklärungen für die Verhaltensweisen
Im nächsten Blog werde ich Ihnen mögliche Gründe für die Verhaltensweisen unserer Freundin, unseres Nachbarn und dem Freund unserer Schwester vorstellen.
Bis dahin können Sie gerne auch Überlegungen anstellen, was es für Gründe geben könnte.
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