Unsichtbare Mauern – Strukturelle Gewalt im Gesundheitswesen
Wenn der Alltag zur Herausforderung wird…
Autorin: Christina Wiesmeyer
Strukturelle Gewalt – allgegenwärtig?
Von außen wirkt alles geordnet: Geregelte Abläufe, Essenszeiten, klare Zuständigkeiten. Doch hinter den Kulissen des Gesundheitssystems lauert eine Form der Gewalt, die schwer zu greifen ist – und dennoch täglich spürbar: strukturelle Gewalt. Sie trifft nicht nur Patient*innen und Bewohner*innen, sondern auch das Personal. Besonders in Psychiatrien, Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen wirkt sie leise, aber tiefgreifend.
Wenn der Alltag fremdbestimmt wird…
Strukturelle Gewalt zeigt sich selten auf den ersten Blick. Sie ist in Abläufen, Systemen und Zwängen verankert. Wer jemals im beruflichen Kontext, als Patient*in im Krankenhaus oder als Bewohner*in in einem Pflegeheim war, kennt sie vielleicht: feste Essenszeiten, starre Tagespläne, Routinen mit wenig Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse. Was für die Organisation hilfreich scheint, wird für viele Betroffene zur Erfahrung von Machtlosigkeit und Entfremdung.
Ein Beispiel: Eine 86-jährige Frau, die ihr Leben lang ausschlafen konnte, wird nun um 07:00 Uhr geweckt, weil das Frühstück „durchgetaktet“ ist. Die Betreuer*innen trifft keine Schuld – sie folgen einem System, das auf Effizienz und Ressourcenschonung ausgelegt ist.
In vielen stationären Einrichtungen fehlt es an etwas ganz Grundlegendem: Privatsphäre und persönlicher Rückzug. Zwei bis drei Personen in einem Zimmer sind keine Seltenheit – sei es auf psychiatrischen Akutstationen oder in Pflegeheimen. Persönliche Gespräche finden häufig am Bett oder in der Nähe des Stützpunkts statt, Rückzugsorte sind rar. Die Möglichkeit, sich ungestört wahrzunehmen oder einfach einmal für sich zu sein, bleibt oft auf der Strecke.
Das Resultat? Anspannung, Rückzug, Reizbarkeit – oder Aggression. Wenn Menschen keine Möglichkeit haben, sich selbst zu regulieren, entstehen Konflikte. Was oft als „Verhaltensauffälligkeit“ oder „krankheitsbedingt“ etikettiert wird, ist nicht selten eine Reaktion auf systemisches Unbehagen.
Wandel durch Haltung: Wenn Menschlichkeit den Unterschied macht
Trotz aller Strukturen gibt es in vielen Einrichtungen auch einen erfreulichen Wandel – und dieser beginnt beim Personal. Viele Pflegekräfte, Therapeut*innen und Ärzt*innen arbeiten individuell und mit spürbarer Haltung. Und es macht einen Unterschied, ob jemand einfach „durch den Tag gebracht“ wird – oder ob jemand gesehen wird.
Immer öfter erleben wir, dass:
- Weckzeiten an persönliche Gewohnheiten angepasst werden
- Essenszeiten flexibel gehandhabt werden, wenn jemand z. B. nachts Hunger hat
- Menschen bei Schlaflosigkeit das Zimmer verlassen dürfen – ohne Sanktionen
- gezielt Rückzug angeboten oder aktiv Kontakt vermittelt wird
- Ausgänge mit Angehörigen individuell ermöglicht werden
- Ein wertschätzender Umgang und Rücksicht auf persönlichen Bedürfnisse

Eine Frage der Menschlichkeit…
Diese kleinen Gesten schaffen Menschlichkeit im System. Sie zeigen: Individualität ist möglich – wenn Haltung vor Routine steht. Wenn das Personal offen auf Patient*innen eingeht, fühlen sich Menschen gehört und angenommen. Vertrauen entsteht – auch in belastenden Lebenssituationen. Und dadurch reduzieren sich Aggressionen, Spannungen und Rückzug deutlich.
Bewegung statt Medikation

In der psychiatrischen Akutversorgung wie auch in vielen Pflegeeinrichtungen zeigt sich deutlich, wie stark strukturelle Rahmenbedingungen die Qualität der Betreuung prägen. Aufgrund personeller Engpässe und fehlender systematischer Planung geraten aktivierende Maßnahmen wie Bewegung, Aktivierung, kreative Angebote oder soziale Interaktion oft in den Hintergrund. Dies hat zur Folge, dass beruhigende und passivierende Maßnahmen – häufig medikamentöser Art – nicht nur eingesetzt werden, weil sich Patient*innen andernfalls nicht ausreichend selbst regulieren können, sondern auch, weil die strukturellen Voraussetzungen für alternative Zugänge fehlen.
Dabei wissen wir längst: Bewegung wirkt stimmungsaufhellend, angstreduzierend, strukturierend. Sportliche Spiele, Gruppenübungen, Spaziergänge oder achtsame Körperarbeit könnten viel bewirken – für Körper und Psyche. Doch es fehlt an Personal, Raum und Priorität. Stattdessen: Fernsehen im Aufenthaltsraum oder Warten auf das nächste Medikament.
Wer entscheidet hier eigentlich?
Ein Ausdruck der Herausforderungen im Alltag psychiatrischer Einrichtungen und Pflegeheime zeigt sich in der eingeschränkten Mitbestimmung von Patient*innen und Bewohner*innen. Entscheidungen zu Unterbringung, Medikation oder Tagesstruktur werden oft aus fachlicher Verantwortung heraus getroffen – jedoch bleibt dabei die aktive Einbindung der Betroffenen mitunter begrenzt. Auch in Pflegeeinrichtungen prägen festgelegte Tagesabläufe den Alltag, sodass individuelle Wünsche, wie z. B. „Was möchten Sie heute tun?“, organisatorisch schwer umzusetzen sind.
Auch Angehörige fühlen sich mitunter wenig eingebunden – etwa wenn Besuchszeiten schwer mit dem Alltag vereinbar sind oder Informationen nicht leicht zugänglich sind. Dies kann bei allen Beteiligten das Gefühl auslösen, nicht ausreichend wahrgenommen oder gehört zu werden – obwohl das Pflegepersonal oft bemüht ist, genau dies zu leisten, jedoch unter strukturellen Bedingungen arbeitet, die wenig Spielraum lassen.
Strukturelle Gewalt betrifft auch das Personal
Nicht nur Patient*innen leiden. Auch Pflegekräfte, Therapeut*innen und medizinisches Personal sind strukturell bedingten Einschränkungen ausgesetzt, die emotional und physisch stark belasten können. Oft wird mit hohem Zeitdruck, zu wenig Kolleg*innen und einer hohen Anzahl an Patient*innen gearbeitet, was zu wenig Raum für individuelle Fürsorge lässt.
Was wäre, wenn…?
Was, wenn wir Therapie nicht nur als Medikation und Gespräch verstünden – sondern auch als Bewegung, Beziehung und Gestaltungsspielraum?
Was, wenn Pflege – als alltägliche Begleitung und Beziehung – noch bewusster als gestaltbarer Lebensraum wahrgenommen würde, in dem Selbstbestimmung im Zentrum steht?
Einrichtungskulturen lassen sich verändern. Nicht über Nacht – aber durch Fragen, Haltungen und bewusst gestaltete Strukturen:
- Können wir individuellere Tagesabläufe ermöglichen?
- Wie schaffen wir Rückzugsräume – auch bei begrenztem Platz?
- Wo lassen sich Bewegung und Aktivität integrieren, ohne mehr Personal zu benötigen
- Wie gelingt es, Betroffene und Angehörige wirklich einzubinden?
Sichtbar machen, was unsichtbar ist
Strukturelle Gewalt ist tückisch, weil sie nicht „laut“ ist. Sie zeigt sich nicht in Schlägen oder Schreien, sondern in Routinen, die sich wie Naturgesetze anfühlen – aber veränderbar sind. Ein erster Schritt ist, sie zu benennen, sichtbar zu machen und zur Diskussion zu stellen. Nur dann können wir sie auch abbauen – Schritt für Schritt.
Es beginnt mit Haltung…
Strukturelle Gewalt ist kein Versagen einzelner, sondern Ausdruck eines Systems, das Effizienz oft über Menschlichkeit stellt. Doch es geht auch anders – und viele Mitarbeitende zeigen das täglich. Dort, wo Haltung, Offenheit und Individualität gelebt werden, entsteht Beziehung, Vertrauen und echte Versorgung. Gute Betreuung beginnt nicht mit einem Plan, sondern mit einer einfachen, ehrlichen Frage:
„Was brauchen Sie im Moment und wie kann ich Sie unterstützen?“
Und genau dort beginnt Veränderung – im Kleinen, im Menschlichen, im Moment.
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