Krankheitsbild Magersucht und Deeskalation
Ein Streifzug in die Praxis einer österreichischen kinder- und jugendpsychiatrischen Akutstation.
Autor: Stefan Weißensteiner
Wie kann eine deeskalierende Haltung in einer Schwerpunktstation für Magersucht (Anorexia nervosa) aussehen?
Erfahrungen aus der Pflegepraxis
Aufgrund meiner 5-jährigen Pflegetätigkeit mit vorwiegend an Anorexie erkrankten Jugendlichen, zu ca. 97% Mädchen, möchte ich meine Erfahrungen teilen. Es ist ein Spezialgebiet mit einer schwerwiegenden, vielschichtigen Erkrankung, die eine massive Auswirkung auf die Betroffenen hat. Ebenso sind ihr Lebens- und Familienumfeld und die eigene Lebensdauer davon gezeichnet. Laut Fachliteratur weist diese psychosomatische Erkrankung die höchste Sterblichkeit (Suizid und Versterben durch Entgleisung der Körperfunktionen) aller psychischen Störungsbilder auf. Die an Magersucht erkrankten Burschen sind in meinem Arbeitsumfeld noch stärker unterrepräsentiert als in der Statistik (8-10%).
Neue Medienformen und das dort transportierte ungesunde Körperidealbild, das oft nur mehr durch „Schönheits“-Operationen erlangt werden kann, wirken negativ auf verletzliche, pubertierende Jugendliche. In der jüngeren Vergangenheit wechselte das vermeintliche Ideal immer stärker in kürzeren Zeitabständen. Physiologisch ist das nicht mehr erreichbar (Institut Suchtprävention promente).
Eine Verschärfung merke ich jedenfalls beim Schweregrad und dem niedrigen Aufnahmealter. Alle Betroffenen unter dem 14. Lebensjahr werden unter frühkindlicher Anorexia nervosa ärztlich diagnostiziert.
Positive Atmosphäre für alle
Einfach umzusetzen und jederzeit machbar ist es, eine angenehme Atmosphäre im Raum zu schaffen. Sei dies durch indirekte Beleuchtung, Tischdekoration, die gemeinsam gestaltet wird oder Musikuntermalung. Farbliche Wandgestaltung und Bilder können primärpräventiv deeskalierend eingesetzt werden.
Gespräch über Belangloses beim Essen, das vom Fachpersonal begleitet wird, sind für viele ungewohnt. Ohne Essbegleitung herrscht ein beklemmendes Gefühl, wie eine Totenstille bei einer Begräbniszeremonie. Wird bewusst gegengesteuert, kann die Atmosphäre hilfreich wirken. Gute Stimmung bringt allen Beteiligten etwas Positives, den Behandler*innen und den betreuten jungen Menschen.

Basis der Therapie
Professionalität, Fortbildungen und Therapie anhand der S3-Leitlinie sind Grundlagen der Behandlung. Weil Kinder in der Wachstumsphase sind, muss das Körperlängenwachstum anhand der BMI-Perzentile miteinbezogen werden.
Es ist wichtig, eindeutig zu kommunizieren, da sonst andauernde, zermürbende Diskussionen den Klinikalltag belasten. Individuelle Veränderungen bedürfen einer transparenten Information aller Beteiligten. Dagegen ist verbale Deeskalation mit Elementen der gewaltfreien Kommunikation oder motivierender Gesprächsführung hilfreich. Mitfühlende, geduldige aber klar abgesteckte Gespräche wo Eigenverantwortung betont und Fremdverantwortung erklärt wird, wirken ebenso gesundheitsförderlich. Die Schuldfrage stellt sich nicht, so wie bei allen psychischen Erkrankungen!
Vor, während und nach der als akut belastend verspürten Mahlzeiten befinden sich die Patientinnen im Hochstress. Wieder ist eine deeskalierende Haltung gefordert.
Helfende Strategien wie Skills (gesunde Fertigkeiten) oder andere sinnesbezogenen Ablenkungsmaßnahmen (sich gesund spüren, Wärme/Kälte etc.) werden oft angenommen. Wir geben Anleitung zum Einsatz von Boxsack, Akupressurkugeln und -ringen, kalt duschen oder starken Gerüchen. Frische Luft, ein aktiver Spaziergang, gezielt eingesetztes Schreien im Sinne vom Heraus- und Ablassen eignen sich genauso. Es benötigt eine Kombination von mehreren Skills zu stark wirkenden „Skillsketten“, punktuell auch verordnete Medikamente, um die Hochspannung zu senken. Motivation durch das Fachpersonal ist erforderlich, weil sich viele Jugendlichen selbst nicht aus der gedanklichen Negativspirale befreien können.
Begleitung mit Fingerspitzengefühl, Empathie sowie Klarheit und echtes Feedback fordern das Behandlungsteam laufend. Meist sind dies Sozialpädagog*innen und Pflegekräfte, die in diesen heiklen Situationen deeskalieren, zuhören und 24/7 präsent sind.
Lebensgefahr durch die Essverweigerung

Bei einer akuten, aktuellen Gefährdungslage durch das Essenverweigern, ist in Österreich klar das Unterbringungsgesetz zuständig. Eine Kinder- und Jugendpsychiatrie ist dabei keine Ausnahme. Stark erniedrigte BMI-Werte von 14-12 kg/m2 sind keine Seltenheit. Ab BMI 18,5 kg/m2 beginnt schon das starke Untergewicht. Bei völliger Nahrungs- und Flüssigkeitsverweigerung kommt es zur Zwangsernährung, die ärztlich angeordnet, pflegerisch überwacht und richterlich überprüft wird. Da es verboten ist, in Österreich Minderjährige verhungern zu lassen, muss dem entgegengesteuert werden. Oft wird erst hier für die Betroffenen selbst und ihre Angehörigen der Ernst der Lage erkennbar!
Die stark ausgeprägte Krankheitsuneinsichtigkeit („ich bin weiter zu dick“, „ich brauche keine Nahrung“, „ich sterbe schon nich“t) fordert die deeskalierende Haltung des Helferteams massiv heraus. Hier ist die Bandbreite, wie solche Akutsituationen ablaufen, die mehrfach am Tag stattfinden können, aus meiner Erfahrung sehr groß. Ist ein Team in Deeskalation geschult, profitieren alle Beteiligten.
Fazit aus dem Klinkalltag – nach der Mahlzeit ist vor der Mahlzeit
Ein komplexes Krankheitsbild, das fordert…
Mit einer Nachsicht, die Gesundheit und Behandlungsauftrag nicht aus den Augen verliert. Das Behandlungsteam versucht tiefgehende Wirksamkeit, individuelle Hilfe und pflegerische, therapeutische und medizinische Grundlagen zu vereinen. Schonung aber Ernährung, unter Berücksichtigung aller gelinderen Mittel und Maßnahmen, die auch das Unterbringungsgesetz fordert. Das komplexe Krankheitsbild und die vielen persönlichen Facetten versuchen wir auszugleichen. Die hohen Anforderungen an Deeskalation in allen Qualitäten fordern pausenlos die Fachpersonen. Fall-Supervision, Teamintervision und offene, klare Kommunikation sind aus meiner Sicht ein Must-have. Vor allem im Alltag einer Spezialstation für an Anorexie erkrankte junge Menschen. Klares Benennen von Pflegehandlungen, von gesetzlich reglementierter Fremdbestimmtheit hin zu mehr (überwachter) Eigenverantwortung, ist unumgänglich.
Nach einem Akutereignis ist Deeskalation nötig, um die nächste Essenssituation begleiten zu können. Das Wissen darum und entsprechende Erfahrungswerte aus der Praxis sind absolut wichtig. Dringend nötig ist es für das Behandlungsteam sich gegenseitig zu unterstützen, positive kleine Schritte zu benennen. Die tückische Form der Selbstaggression durch das schleichende Runtermagern ist nur mit einem funktionierenden Team auszuhalten. Sich über das eigene „Window of Tolerance“ (Toleranzfenster der Selbstwirksamkeit) klar zu werden, geht nur über Selbstreflexion, fachlichen Austausch im Team und learning by doing. Es ist wichtig sich selbst über aktuelle Schönheitsideale mit Normverschiebungen, Bedürfnisse hinter dem Essen und Genussfähigkeit im Klaren zu sein. Das Krankheitsbild der Magersucht, fordert die Betreuer*innen selbst in allen Belangen. Der Hunger nach echter Geborgenheit und gesunder Anerkennung durch das Umfeld, fordert die Jugendlichen. Sichtbar ist das Nicht-Essen, unter der Oberfläche wirken mächtige Gefühle und unbewusste Blockaden, negative Glaubenssätze sowie transgenerationale Traumen (Eisbergmodell nach Sigmund Freud).
Positiver Ausblick
Es gibt eine Fülle an deeskalierenden Möglichkeiten, die es zu erkennen und nützen gilt. Eine humanistische und positive Grundeinstellung dazu ist wichtig. Die betroffenen Menschen hinter den Symptomen zu sehen, ebenso.
Ich kann als Pfleger vieles deeskalativ aufbereiten und mitgestalten, damit Betroffene letztendlich eigenverantwortlich die vielen kleinen Schritte hin zum eigenen Überleben gehen. Der lange Weg führt nur über eine intensive Therapie mit gleichzeitig ausreichender Ernährung. Es dauert, aber es zahlt sich aus!
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