Psychiatrie und Kinderrechte
Autor*innen: Jelena Rimser und Stefan Weißensteiner
Wie kann die Wahrung der Kinderrechte verbessert werden?
Seit 8. April 2024 läuft die erste bundesweite Kinderschutzkampagne. Kosten: 2 Millionen Euro.
Ziel: Sensibilisierung der Erwachsenen für Anzeichen von Gewalt gegen Kinder und klarer Aufruf zum Handeln. Sie soll Kinder darin stärken Grenzen zu setzen und Gewalt als Problem zu erkennen.
„Hinsehen und Handeln statt Wegschauen und Schweigen sollte für alle Erwachsenen in Österreich und im Grunde jedes Land dieser Welt üblich sein“ so Sascha Hörstlhofer, Obmann des Österreichischen Kinderschutzbundes in Wien (kinderschutz.at).
Schutz der Kinderrechte trotz mangelhafter Versorgung
Doch wie sieht es auf einer Kinder- und Jugendpsychiatrie aus, wo sich Kinder und Jugendliche bereits in einer Krise befinden? Weg von zu Hause und dem gewohnten sozialem Umfeld fühlt man sich gerade zu Beginn des Aufenthaltes oft machtlos und ausgeliefert. Nicht nur deswegen müssen Kinderrechte auch hier oberste Priorität haben.
Bekanntermaßen muss man davon ausgehen, dass die kinderpsychiatrische Versorgung in Österreich seit Jahren mangelhaft ist, somit ergeben sich von Natur aus Zustände, die Konflikte fördern, Probleme eskalieren lassen und somit die Kinderrechte leichter unter die Räder kommen lassen (ots.at, science.apa.at, orf.at).
Menschenrechte als grundlegende Ausgangsbasis
Der Umgang mit Menschen in der Psychiatrie generell, aber auch der Umgang mit Gewalt, Aggression und deren Auswirkungen stützt sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention (basierend auf den allgemeinen Menschenrechten der Vereinten Nationen). Diese beinhaltet auch die Kinderrechte der Kinderrechtskonvention.
Um einen therapiefördernden Rahmen zu schaffen, welcher von den Betroffenen auch als solcher wahrgenommen wird, gilt es sich zu überlegen welche Settings auf einer Kinder- und Jugendpsychiatrie passend und hilfreich sind. Anzudenken sind hier Kinder- und Jugendforen, pflegetherapeutische Gruppen, Bezugspflegegespräche und Elternrunden sowie eine heilsame Umgebungsgestaltung.
Deeskalation und Kinderrechte
Pflegepersonen stemmen sich tagtäglich gegen Krisen und wollen adäquat arbeiten und jegliche Gewalt vermeiden. Es gibt positive Bestrebungen dagegen zu wirken und Kinderrechte im stationären Alltag zu verankern, auch in sehr herausfordernden Situationen.
Jede Aus- und Weiterbildung in Sachen Aggressions- und Deeskalationsmanagement trägt ebenfalls dazu bei, da hier die Themen Recht, Ethik und reflektierte Interventionen Inhalt sind. Ist im Akutfall nicht mehr anders zu handeln, sind auch hier schmerzfreie, schonend-wirksame „Kommunikationsgestützte Körperinterventionen“ anzuwenden.
Für manche ist nicht klar, dass jede körperliche Gewalt immer auch die psychische Form beinhaltet. Die „(un)-gsunde Watsch`n“ und andere Formen der Gewalt gegen Kinder sind leider nicht verschwunden. Von allen Kinderschutzeinrichtungen Österreichs kommt deshalb derselbe Slogan, dagegen anzukämpfen, weil Gewalt gegen Minderjährige mehr als physische Misshandlung ist und folgenschwer wiegt!
Das Worst-case-Szenario
Was es zu vermeiden gilt ist, dass Kinder und Jugendliche in der Facheinrichtung re-traumatisiert werden und der Umgang mit Akutsituationen unprofessionell passiert. Denn was lernt das betroffene Kind eventuell schmerzlich dadurch? „Ich finde nirgends Schutz und kann mich nur durch eigene Gewalthandlungen wehren…“!
Trotz eindeutiger gesetzlicher Regelung ist der Umgang im Alltag wie auch in Akutsituationen oft schwammig. Die Kinder- und Jugendanwaltschaft in Oberösterreich bestätigt, dass der Umgang mit Gewalt an Kindern und Jugendlichen noch immer oft unscharf, uneindeutig gelebt wird oder nicht allen Beteiligten klar ist. Es fehlt noch immer vielfach das Verständnis darüber, wo Gewalt beginnt, und dass auch Demütigungen, Abwertungen, Beschimpfungen oder „Hand ausrutschen“ dazu zählen. Obwohl es klar sein sollte, ist es auch im Jahr 2024 wichtig, sich unmissverständlich zu positionieren, Zivilcourage zu leben, mutig gegen Gewalt aufzutreten und Kinderrechte, egal in welchem Setting zu wahren. Vor allem in Akutsituationen scheint dies oft schwierig.
Ein Beispiel aus der Praxis
Ein 16-jähriges Mädchen, geplagt von paranoiden Gedanken, Drogenabusus, eine psychiatrische Grunderkrankung und akute Krise, mehrfach stationär unter UbG aufgenommen. Mehrfache Schutzfixierung innerhalb von 2 Tagen notwendig, mittels Körperkraft Sicherung im 5-Punkt-Fixierungsgurt sowie anschließende akutpsychiatrische medizinische Versorgung.
Erste telefonische Alarmierung – die Durchführung verläuft eher unkoordiniert. Es ist eine unklare Sachlage vorherrschend mit einer massiv aufgebrachten Patientin. Die Kommunikatoren wechseln, reden durcheinander, ein „Kuddelmuddel“ beim Handling am Bett folgt. Die Handlungsabläufe wirken chaotisch.
Erst als die Patientin im Bett liegend auf Kopfhöhe kontaktiert wird, ist wieder eine durchgängige, klar verständliche Kommunikation möglich. Im Rahmen der 1:1-Betreuung wird das weitere Procedere erklärt, ein Coolpack für den Nacken gereicht, eine Decke für den Intimschutz veranlasst, für eine entspanntere Atmosphäre gesorgt, sprich weiter „deeskaliert“. Die Patientin gibt die klare Rückmeldung, das Auftreten der alarmierten männlichen Personen als bedrohlich erlebt zu haben.
Aber es kann auch anders laufen. Am Nachmittag erfolgt eine weitere Eskalation. Ein Deeskalationstrainer übernimmt die Führungsrolle, teilt helfende Personen ein, sorgt für Klarheit und konsequente Gefährdungsminimierung für alle. Die eindeutigen, verbalen Botschaften sind von Haltung und Achtung der Menschenwürde geprägt. Somit kann adäquaten Wünschen der Patientin entsprochen werden, es kommt zu einer schonenden und wirksamen Sicherung unter Anwendung von kommunikationsgestützen Körperinterventionen. Kommunikation und Deeskalation erfolgen rasch nach den erlernten Prinzipien und weichen nur dort ab, wo es individuell nötig ist.
Am nächsten Tag erfolgt ein Hilferuf aus dem besonders gesicherten Stationsbereich. Ein Buttermesser, das die Patientin schützend neben dem Körper trägt, verschärft die Situation zusätzlich. Große Ängste sind bei der Jugendlichen merkbar. Jedoch kann an die vorangehende Situation gut angeknüpft werden und die Sicherheit für alle ist schnell wieder hergestellt. Da die Patientin das Messer freiwillig abgibt ist ein Beiziehen der Exekutive nicht notwendig.
Was macht den Unterschied?
Koordination, Kommunikation und Zusammenarbeit sind vom Deeskalationstrainer in einem geschulten Team rasch hergestellt. Hier kommt das Wesen der angeleiteten Deeskalation zutage, einer auf Menschenrechte basierende Grundhaltung, das professionelle Anwenden der kommunikationsgestützten Körperinterventionen, Expertise im Umgang mit Akut- und Ad hoc-Situationen und das vorangegangene Kontakthalten mit der Betroffenen.
Menschenkenntnis, Teamwork, ein Tool an Handlungsmöglichkeiten und eine Ruhe ausstrahlende Klarheit sind hilfreich, um die Sicherheit für alle schnellstmöglich wieder herzustellen.
Diese Form der Deeskalation konnte in der Praxis erfolgreich angewendet werden, alle Beteiligten sind unverletzt geblieben und die Patientin konnte fachgerecht therapiert und versorgt werden.
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