Tabuthema Aggression & Gewalt

Das krankmachende Phänomen

Wie werden wir tagtäglich mit Aggression und Gewalt konfrontiert?

Nicht richtig eingeschätzt von den Führungspersonen, nicht wahrgenommen von den Geschäftsführenden und der Politik. Nicht ausgesprochen von den Berufsangehörigen der Gesundheits- und Sozialbereiche. Aggression und Gewalt erleben die Menschen in Gesundheitsberufen beinahe täglich in der ambulanten und in der stationären Betreuung. Ein Viertel aller Aggressionen am Arbeitsplatz finden im Gesundheitswesen statt.

Aggression und Gewalt in Gesundheitsberufen

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesundheitsberufe sind, nach Polizei und Sicherheitsleuten, unter allen Berufen am zweithäufigsten von Aggressions- und Gewaltereignissen am Arbeitsplatz betroffen. Studien zeigen, dass die Folgen von Aggressions- und Gewaltereignissen insgesamt unterschätzt werden. Führungspersonen und Basispersonal verfügen über wenig Wissen und Fertigkeiten in Bezug auf Auswirkungen von Aggression und Gewalt am Arbeitsplatz. Die Vermittlung von Wissen zur Aggressionsentstehung, zum Aggressionsverlauf und zu deeskalierenden Interventionsmöglichkeiten kann die Sicherheit von Personal und Patientinnen und Patienten, erhöhen. Ziel muss es sein, dass sich Führungsverantwortliche im Sinne einer Organisationsphilosophie mit der Thematik aktiv auseinandersetzen.

Im Bereich der psychiatrischen Akutbetreuung gibt es vielerorts bereits standardisierte Trainings in Bezug auf Deeskalationsmanagement. Noch wenig Aktivitäten gibt es im Langzeit- und Akutbereich von Krankenhäusern und Geriatriezentren, wobei das Phänomen Aggression und Gewalt hier nicht weniger präsent ist. Im Bereich der Akutbetreuung werden blaue Flecken, Kratz-, Biss- und andere Wunden sowie Folgen psychischer Verletzungen wie Angstzustände, vermindertes Selbstwertgefühl bis hin zu posttraumatischen Störungen noch immer wenig beachtet. Infolge dieser negativen Erfahrungen am Arbeitsplatz wechseln Betreuungspersonen das Berufsfeld oder steigen frühzeitig aus dem Beruf aus (Estryn-Behar M., et al. 2008). Zu akzeptieren ist, dass Aggression und Gewalt am Arbeitsplatz – sei es körperliche oder psychische – zu einem Problem geworden ist, dass viele Arbeitsbereiche und beinahe alle Berufsgruppe betrifft.

Die traurige Statistik

Die britische Sozialpsychologin Glynis M. Breakwell beschreibt bereits 1999 in ihrem Buch „Aggression bewältigen – Umgang mit Gewalttätigkeit in Kliniken, Schule und Sozialarbeit“:

„Für Menschen, die einen helfenden Beruf ausüben, sind Aggressivität und körperliche Gewalt überall auf der Welt eine der größten Sorgen. Welche Tragweite das Problem hat, wird durch die wachsende Anzahl tödlicher Angriffe auf Menschen in helfenden Berufen hervorgehoben. Jeder der in diesem Bereich arbeitet, kennt die traurige Liste …“

Kein neues Thema

Somit ist dies kein neues Thema! Die verantwortlichen Führungspersonen und PolitikerInnen werden immer dann mit der Thematik konfrontiert, wenn skandalträchtige Medienberichte die Titelseiten erreichen. In schnellen reflexartigen Aktionen werden Bekundungen über die Qualität der Versorgung verlautbart und medienwirksam wird versucht mitzuteilen, dass es sich um Fehlverhalten einzelner Personen handelt. Es wird versucht, den eigenen Bereich besonders gut darzustellen, und es wird auf getroffe Maßnahmen hingewiesen und mitgeteilt, dass Missstände nur auf individuelles Versagen einzelner Personen (meist überforderter BasismitarbeiterInnen) zurückzuführen ist und dies eine absolute, bedauerliche Ausnahme darstellt.

Nicht bedacht wird, dass Missstände nicht von einem Tag auf den nächsten Tag entstehen! Eine gewaltbereite Atmosphäre entsteht, weil sich Beteiligte nicht mehr imstande sehen, ihre Bedürfnisse und Interessen auf andere Art als durch Aggression zum Ausdruck zu bringen. Dies sind langsame Prozesse, die begünstigt werden durch das Zudecken, Wegschauen und Nichtwahrnehmen von Kausalketten, welche in der Forschung zum Thema Aggression und Gewalt im Gesundheits- und Sozialbereich seit Jahrzehnten publiziert werden.

Die Auseinandersetzung mit Aggression und Gewalt

Menschen gehen auf Strasse

Sich mit der Thematik Aggression am Arbeitsplatz auseinanderzusetzen, ist nicht leicht, aber für das Management unerhört wichtig.
Ein wichtiger Schritt in der Bewältigung von Aggression ist, das Phänomen wahrzunehmen und Strategien im Umgang zu erarbeiten. Wird Aggression im Gesundheitswesen negiert, ist die Sicherheit von PatientInnen und Personal gefährdet. Eine sichere Arbeitsumgebung stellt ein Grundrecht für alle MitarbeiterInnen, KlientInnen und PatientInnen im Gesundheits- und Sozialwesen dar. Ein sicherer Arbeitsplatz ist auch Garant für erfolgreiches Personalrekruting. Der Beginn einer objektiven Themenbearbeitung des Phänomens Aggression im Arbeitskontext kann durch ein gezieltes Deeskalationsmanagement im Rahmen von Wissens- und Kompetenzvermittlung erfolgen. Ein erfolgreiches Deeskalationsmanagement fördert die Kompetenzen der Betreuungspersonen und bewahrt Personal wie auch die zu Betreuenden vor dem Erleiden physischer und psychischer Aggression und Notsituationen.

Sechs Stufen auf dem Weg zur sicheren Institution

David Leadbetter (UK) arbeitet und forscht seit über 25 Jahren zum Thema Aggressions- und Sicherheitsmanagement und hat einen typischen prozesshaften Verlauf in sechs Stufen beschrieben, den viele Einrichtungen in der Auseinandersetzung mit Aggressions- und Gewaltereignissen auf dem Weg zur sicheren Institution durchlaufen (vgl. Walter, Nau, Oud. 2012. S. 510ff)

Stufe 1: Verleugnung

  • Es herrscht eine Kultur der Schuldzuweisung. (“Warum hast du das so gemacht, ist ja kein Wunder, dass …)
  • MitarbeiterInnen, die Bedenken äußern werden, als überängstlich und/oder inkompetent angesehen.
  • MitarbeiterInnen, die auf das Problem hinweisen, werden oft als Sündenböcken dargestellt.
  • Gewalttätige Zwischenfälle werden als isolierte Ereignisse gesehen, die vorwiegend durch eigenes Versagen oder Zufälle verursacht werden.

Stufe 2: Ignorieren

  • Das Risiko der Aggression durch PatientInnen bzw. KlientInnen wird wahrgenommen jedoch nicht bearbeitet. Es herrscht Angst, das Problem offen anzusprechen.
  • Zum Berichten und Dokumentieren von Ereignissen wird nicht ermutigt. Es kann zu aktiven Maßnahmen z. B. zum Unterdrücken der Diskussion kommen. „Wenn das bekannt wird, könnte das ein schlechtes Licht auf uns werfen ….“
  • Fehlzeiten und Arbeitsunfähigkeit der MitarbeiterInnen nehmen zu.

Stufe 3: Aufwachen

  • Die Risiken werden anerkannt, jedoch nur in dem Rahmen einer Kultur, die diese als „Teil des Jobs“ ansieht. „Das ist halt so …“
  • Bei der Führung bestehen Widerstände gegen formales Vorgehen und es gibt keine abgestimmte/vereinbarte Vorgehensweisen.
  • Das Problem „haben“ die MitarbeiterInnen an der Basis. Teilweise wird das Problem dann an den Aus-, Fort- und Weiterbildungsbereich weitergereicht, auch um die MitarbeiterInnen zu beruhigen und vonseiten des Managements „etwas getan zu haben“.
  • „Opfer“ können ihre Erfahrungen austauschen und dürfen das Problem benennen. Die Unterstützungssysteme werden kritisiert.
  • Leitlinien werden entwickelt. Diese sind eher vage, unrealistisch und konzentrieren sich darauf, was die MitarbeiterInnen nicht tun sollen, anstatt angemessene Interventionen zu benennen und mit den Ablaufprozessen der Organisation abzustimmen.
  • Einführung von Trainings, die nicht alle Bereiche von Gewaltprävention umfassen, sind mehr auf Krisenbewältigung konzentriert z. B. Selbstverteidigungskurse, angeboten durch Polizei oder Kampfsportvereine.

Stufe 4: Durchbruch

  • Das Management untersucht Kosten und Konsequenzen und kommt zu dem Schluss, dass ein anderer Ansatz verfolgt werden muss.
  • Eine koordinierende Leitungsperson übernimmt die Verantwortung.
  • Es werden Leitlinien entwickelt, die jedoch noch Stückwerk bleiben.
  • Das Training wird vielfältiger und spezifischer (ganzheitliches Deeskalationstraining).
  • Ergebnisse werden wichtiger.

Stufe 5: Management

  • Praxis und Prozesse werden den Gegebenheiten und dem Bedarf angepasst.
  • Unterschiedliche Leitlinien und Verfahrensanweisungen werden zu einem Gesamtkonzept integriert.
  • Warnzeichen, Ursachen erlangen größere Beachtung und es entwickelt sich ein vertieftes Verständnis von Kausalketten.
  • Das Management übernimmt Verantwortung, indem es den Umgang mit Aggression am Arbeitsplatz zur Managementaufgabe macht.

Stufe 6: Integration

  • Sicherheitsaspekte werden bei allen Tätigkeiten berücksichtigt.
    Vorbeugender Ansatz auf allen Ebenen.
  • Aggression wird im direkten
  • Zusammenhang mit Arbeitsaufgaben gesehen und weniger mit individuellen Qualitäten der MitarbeiterInnen.
  • Ein Modell des ganzheitlichen institutionellen Umgangs wird umgesetzt.
  • Einbezug der Betroffenen.

Warum sind sichere Institutionen so wichtig?

Die sichere Institution erfordert ein Fundament und eine Geisteshaltung, wo unter den Bediensteten eine offene Kommunikation, Vertrauen und Zuversicht gelebt wird und sowohl das Management wie auch die MitarbeiterInnen gewillt sind, sich weiterzuentwickeln. Auf Basis dieses Fundamentes bedarf es vieler Bausteine (Abb. 2), welche in allen Ablauf- und Organisationsprozessen einer Institution Berücksichtigung fi nden müssen, um das ganzheitliche Ziel der sicheren Institution zu erreichen (Nau, 2014).

Das Ziel der sicheren Institution bedeutet, dass die MitarbeiterInnen Sicherheit, Klarheit und Orientierung im Denken, Fühlen und Handeln erlangen. Dies zeigt sich letztlich darin, dass eine Kultur des respektvollen, würdevollen und verantwortungsvollen Miteinander gelebt wird. Noch immer ist den Berufsangehörigen im Gesundheits- und Sozialbereich nicht bewusst, dass sie in Bezug auf das Strafgesetz, das Allg. bürgerliche Gesetz, die ArbeitnehmerInnenschutzgesetze die gleichen Rechte haben wie jede/r andere BürgerIn in Österreich. Schlagen, Treten, Beschimpfen, Bedrohungen und herabwürdigendes Verhalten etc. haben am Arbeitsplatz nichts verloren und es steht jeder betroffenen Bürgerin/jedem betroffenen Bürger zu, dies bei der Polizei anzuzeigen. Standardisierte Vorgehensweisen sollten in der Institution ausgesprochen und transparent dargestellt werden.

Die emotionalen Effekte

Bei all den Überlegungen ist ebenso zu bedenken, dass sich aggressive Ereignisse am Arbeitsplatz emotional in unsere Erinnerung einprägen wie ein Pfad in der Landschaft und zu

  • posttraumatische Belastungsstörungen
  • Burn-out
  • erhöhtem Stresslevel
  • Verlassen des Berufes

führen können (Estryn-Behar M., et al. 2008).

Bei einzelnen Betreuungspersonen richtet sich jedoch die Wut ebenso auf ihre Institution, da sie die Aggression aufgrund fehlender personeller, institutioneller Ressourcen verursacht sehen. Mangelnde Unterstützung durch Vorgesetzte, durch die Institution und das Gefühl „alleine gelassen zu werden“ demotiviert die MitarbeiterInnen. Sie berichten von direkten Vorgesetzten, die sagen „das kann doch nicht so schlimm sein“; „das gehört zum Beruf“; „das ist mir auch schon passiert“; „da hast du ja eh Glück gehabt …“ etc. Diese Kommentare sind für die unmittelbar Betroffenen wenig hilfreich.

ausgebrannte Glühbirne

Was sind mögliche erste Schritte?

Gezielte Aus- und Weiterbildung in Deeskalationsmanagement kann helfen. Trainiert werden eine breite Palette von Skills um das eigene Verhalten zu ändern und Interventionen anzupassen. Inhalte können sein, die Vermittlung von Wissen und Haltung, Gesprächsführung, und Kommunikationstechniken.

Deeskalation bedeutet, eine Alternative zur Gewalt zu bieten und andere Möglichkeiten aufzuzeigen bzw. das Gewaltpotenzial umzuleiten. Dazu zählen Kommunikationsgestützte Körperinterventionen sowie Nachbetreuungstools.

Eine Win-Win Situation erzielen

Spielfiguren auf Brett sind miteinander verbunden

Deeskalation bedeutet auch für alle Beteiligte eine Win-Win- Situation zu erreichen. Unter Deeskalationsmanagement wird die Gesamtheit aller Elemente verstanden, aller komplexen Systeme, die dazu beitragen, Konfl ikte zu bewältigen und in weiterer Folge Aggression und Gewalt nicht entstehen zu lassen. Aggression und Gewalt in Gesundheitseinrichtungen müssen als ein bestehendes und nicht vollständig vermeidbares Phänomen anerkannt werden. Wichtig ist es sich, der Aufgabe zu stellen, Daten zu erheben, Strategien zu entwickeln und Deeskalationsmanagement als Aufgabe aller Führungsebenen zu sehen!

Wichtige Bereiche der Personal- und Organisationsentwicklung

Personalbezogene Maßnahmen

  • Schulungen und Basiskurse für Deeskalations- und Sicherheitsmanagement
  • Trainerinnen-/Trainerausbildungen für Deeskalations- und Sicherheitsmanagement
  • Verhaltensrichtlinien (Aktions-, Deeskalationsverfahren bei Vorfällen)
  • Arbeitsgruppen für Präventionsmaßnahmen und Risikomanagement
  • Verfahren bei der Traumabewältigung nach schwerwiegenden Ereignissen

Organisationsbezogene Maßnahmen

  • Risikoanalyse der gefahrengeneigten Betriebseinheiten und Mitarbeitergruppen (Datenerhebung von Aggressionsereignissen)
  • Sicherheitsmaßnahmen (Kommunikation mit Polizei, Sicherheitsdienst, Installation von Notrufsysteme)
  • Meldeverfahren für Aggressionsereignisse (und Ursachenanalyse)
  • Patienten- und Besucheraufklärung (Verhaltenskodex, NullToleranz-Strategie)
  • Prüfen von rechtlichen Schritten bei schwerwiegenden Aggressionsereignissen

Beschreiben und planen

  • die Dokumentation und Auswertung von Aggressionsereignissen
  • die Fort- und Weiterbildung im Sicherheitsmanagement
  • das betriebliche Sicherheitsmanagement

Was bedeuten diese Erkenntnisse für uns?

Aggression im Gesundheitswesen muss als bestehendes und nicht vollständig vermeidbares Phänomen anerkannt werden. Daraus folgernd ist es unabdingbar, systematisches und strukturiertes Deeskalationsmanagement in den Institutionen einzuführen und zu etablieren.
Voraussetzung für ein gelingendes Deeskalationsmanagement ist eine deeskalierende Grundhaltung der MitarbeiterInnen, geprägt durch eine ethisch fundierte Geisteshaltung und der Bereitschaft, sein Bestes in der herausfordernden Situation zu geben. Diese ethische Orientierung muss durch Austausch im multiprofessionellen Team und unter Einbeziehung der Betroffenen (PatientIn, KlientIn, Kundin/Kunde) ständig weiterentwickelt werden.

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