It takes two ….
Je früher man einen Konflikt bearbeitet, desto weniger Energie ist nötig, um ihn beizulegen.
Autor*innen: Kerstin Wimmer und Christoph Heller
Wann investieren wir wertvolle Minuten für eine Deeskalation?
Je früher man einen Konflikt bearbeitet, desto weniger Energie ist nötig, um ihn beizulegen. Wenn die Situation sich bereits zugespitzt hat, lässt es sich nur noch mit viel Einsatz in eine gute Richtung lenken. Dieser Tatsache sollten wir uns als Mitarbeiter*innen im Gesundheits- und Sozialbereich stets bewusst sein, um schon durch Haltung mit deeskalierenden Maßnahmen zu beginnen, ohne dass diese bewusst umgesetzt werden müssten.
Eskalation verläuft in einer Kurve
Die meisten eskalierenden Situationen laufen nach einem bestimmten Schema ab. Glynis Breakwell beschrieb dieses anhand einer Kurve. Bei steigender Anspannung lässt sich noch mit relativ geringem Aufwand die Wiederherstellung der Normalsituation bewerkstelligen. Je krisenhafter – und somit gefährlicher, für alle Beteiligten – die Situation wird, desto mehr Aufwand, Personal, Zeit usw. muss investiert werden, um Sicherheit für alle zu ermöglichen. Irgendwann ist die so genannte Krisenphase erreicht, in der viele Deeskalationsinterventionen nicht mehr adäquat eingesetzt werden können und in der es schließlich einzig um die Sicherheit bzw. deren Wiederherstellung für alle Beteiligten geht.
Dazu ein praktisches Beispiel
Unsere fiktive Patientin Jacqueline Wondrak ist 23 Jahre alt und seit zwei Wochen stationär in einer psychiatrischen Abteilung aufgenommen. In den letzten Monaten erfolgten wiederholte Aufnahmen unter der Diagnose Persönlichkeitsstörung mit selbstverletzendem Verhalten.
Folgende Situation ergab sich eines Tages auf der Station:
Frau Wondrak wirkte während der Besuchszeit, die sie mit Freundinnen verbracht hat, guter Stimmungslage. Nachdem sich diese verabschiedet haben, wendet sie sich an das diensthabende Pflegepersonal, da es ihr schlecht gehe und sie sofort ein Gespräch möchte. Da gerade die Dienstübergabe zu Ende gegangen ist, teilt die Pflegeperson Frau Wondrak mit, dass das Gespräch erst in ca. 20 Minuten stattfinden könne. Als die Pflegeperson nach 20 Minuten zu Frau Wondrak ins Zimmer kommt, findet sie sie mit einem tiefen, blutenden Schnitt am Unterschenkel vor. Die Rasierklinge, mit der sie sich selbst verletzt hat, möchte sie nicht abgeben. Sie sagt, sie brauche sie noch, da sie sich jetzt damit umbringen möchte.
Die Krisensituation
Ein Gegenstand ist im Spiel, mit dem sowohl die Patientin als auch das Personal oder auch andere Patient*innen ernsthaft verletzt werden könnten. Je nachdem, wie gut die Patientin auf verbale Interventionen mit ausreichendem Abstand reagiert, sind unterschiedliche Vorgehensweisen möglich bzw. erforderlich. Möglicherweise lässt sich Frau Wondrak davon überzeugen, die Rasierklinge wegzulegen, abzugeben, zu entsorgen. Das Hinzuziehen von weiteren Berufsgruppen, unter anderem einer/einem Ärzt*in, wird notwendig sein, um beispielsweise eine Bedarfsmedikation verabreichen zu können. Sobald die Situation sicher ist, folgt die Wundversorgung möglichst neutral, sowohl Dramatisierung als auch Bagatellisierung sollten im Hinblick auf ihr Krankheitsbild vermieden werden. So weit – so gut, oder vielleicht doch nicht?
Keine Deeskalation der Krise in Sicht
Es kann auch ganz anders laufen, wenn die Patientin bereits so angespannt ist, dass die verbale Intervention nicht mehr zu ihr durchdringt. Die Sicherheit steht im Vordergrund und das kann bis zum Hinzuziehen der Polizei gehen, um die Situation zu entschärfen.
Gibt es vielleicht noch ein drittes Szenario?
Natürlich ist es nicht immer und zu jeder Zeit möglich, auf Wunsch sofort ein ausführliches Gespräch zu führen. Zum professionellen Handeln gehört aber auch, abschätzen zu können, was warten kann und was sofort erledigt werden sollte. Die einfache, kurze Frage, ob es für Frau Wondrak in Ordnung ist, 20 Minuten auf ein Gespräch zu warten, hätte die Situation vielleicht bereits im Vorfeld verhindern können. Einer klaren Zeitvorgabe, die natürlich eingehalten werden sollte, hätte die Patientin zustimmen können oder eben auch nicht. Und diese paar Minuten, die sofort investiert werden, verhindern möglicherweise Verletzungen, Polizeieinsätze, belastende Akutsituationen für alle Beteiligten.
Die Auswirkung unserer Interventionen
Dieses Beispiel veranschaulicht sehr eindrucksvoll, dass oft kleine gesetzte oder auch unterlassene Interventionen über den Fort- und Ausgang einer Akutsituation entscheiden können. An uns liegt es, sich der Verantwortung und Professionalität im Umgang mit Patient*innen und Klient*innen bewusst zu sein und entsprechend unseres Berufsbildes kompetent und adäquat zu agieren. Und falls der gewählte Weg doch nicht der einfachste war oder es zu unerwünschten Eskalationen kommt, besteht noch immer die Möglichkeit, aus der Situation etwas zu lernen: dies kann jede*r für sich im Sinne einer kritischen Selbstreflexion versuchen und/oder besser noch gemeinsam im Team im Zuge einer strukturierten Nachbesprechung, in der jede*r zu Wort kommt und man die „lessons learned“ in die nächsten ähnlich gelagerten Situationen mitnimmt. Damit wird dann selbst eine nicht ideale, „verlorene“ Situation noch zu einem nachträglichen „Gewinn“ für alle Beteiligten.
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