Gewalt in der Geburtshilfe

Zwischen Wunde und Wunder

Gewalterfahrungen während der Geburt

Während die Geburt eines Kindes ein außergewöhnliches und einschneidendes Ereignis für so gut wie jede Frau darstellt, handelt das multiprofessionelle Geburtsteam in einer alltäglichen Routine. Es scheint erwartbar, dass die Gebärende allen medizinischen Interventionen zuzustimmen hat.

Die Geburtserfahrung hat einen großen Einfluss auf die psychische Gesundheit der Frau und auf die Bindung zu ihrem Kind. Traumatische Ereignisse haben weitreichende Folgen auf die Mutter- Kind- Interaktion, die Stillbeziehung und eventuelle Folgeschwangerschaften, aber auch auf die Partnerschaft und das Familiengefüge, welche weitere Probleme in der kindlichen Entwicklung nach sich ziehen kann.

In meinem privaten Umfeld höre ich immer wieder den Satz: „Aber Gewalt gehört doch zu einer Geburt dazu!“ Das Gewalt unter der Geburt als salonfähig betrachtet wird, führe ich auf die romantisierte Darstellung einer Geburt im gesellschaftlichen Konsens zurück. Wenn ich darüber aufkläre, dass Gewalt in meinem Arbeitsumfeld bereits beim Auslachen und spöttischen, sexualisierten Aussagen hin zu unnötigen vaginalen Untersuchungen und Festhalten gegen den Willen der Frau beginnt, ist die Bestürzung fühlbar.

Normalität ist eine Illusion. Was für die Spinne normal ist, ist für die Fliege das reinste Chaos. (Moriticia Addams)

Eine für das geburtshilfliche Team normal ablaufende Geburt, kann für die Gebärende selbst als traumatisch empfunden werden. Vice versa, kann eine für Professionisten schwierige Geburt die Gebärende selbst zwar als herausfordernd aber nicht traumatisierend erlebt werden. Ausschlaggebend für das Geburtserleben ist die Wahrung der eigenen Kompetenz und eine einfühlsame, individuelle Begleitung. Bereits in der Schwangerschaft können physiologische Geburtsverläufe und mögliche Notfallinterventionen und die Bedürfnisse der Schwangeren besprochen werden. Es sollte bedacht werden, dass diese sich im Verlauf der Schwangerschaft immer wieder ändern können.

Weder der Einfluss von Wehenschmerzen noch die Schmerzmitteltherapie ist für die spätere Zufriedenheit der Frau aber so tiefgreifend, wie das Verhalten und die Haltung des geburtshilflichen Teams (vgl. Fatin et al., 2020).

Frau in Krankenhausbett

Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.

(Aus dem „Erlkönig“ von Johann W. von Goethe)

Die WHO bezeichnet unter der geringschätzigen und missbräuchlichen Behandlung in der Geburtshilfe Demütigungen und verbale Beleidigungen, aufgezwungene und ohne Einverständnis vorgenommene Interventionen wie Damm- und Kaiserschnitte, Missachtung der Schweigepflicht, Nichteinholung einer Einverständniserklärung, die Verweigerung von Schmerzmittelgaben, grobe Verletzungen der Intimsphäre und Vernachlässigung der Frau (vgl. WHO, 2015).

Trotz bester Aufklärung kann es zu unvorhergesehenen und dramatischen Geburtsverläufen kommen. Wesentlich für die Verarbeitung eines solchen Szenarios ist die korrekte Einordnung dieser Erlebnisse. Beistand und Verständnis durch das Umfeld in der Akutphase ist entscheidend für die Genesung, wofür meist ein ausführliches Gespräch über die Ereignisse ausreichend ist. Den Zeitpunkt bestimmt immer die Frau selbst und kann auch erst nach einigen Wochen stattfinden.

Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.

(Antoine de Saint- Exupéry)

Frau im Bett traurig

Bereits traumatisierte Frauen haben erlebt, dass ihre Grenzen nicht gewahrt wurden- im Falle sexualisierter Gewalt in dem Körperbereich, den die Geburtshilfe notgedrungen abdeckt. Das Erleben erneuter Übergriffe und mangelnder Rücksicht auf ihre Grenzen können Frauen in psychische Probleme manövrieren.

Ziel ist in erster Linie die gelingende Beziehung zwischen Mutter und Kind. (DHV, 2012)

Es können nicht immer alle Faktoren, die zu einer als gewaltvoll erlebten Geburt führen, beeinflusst und vermieden werden. Aber jede Frau, die derartige Erfahrungen äußert, muss ernst genommen werden. Mit der neuen internationalen S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin ist ein Meilenstein für eine respektvollere und achtsamere Geburtshilfe gelegt worden.

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