Der Einfluss der kindlichen Bindung auf Beziehungsverhalten im Erwachsenenalter
Autorin: Bettina Glaser
Der Grundstein wird früh gelegt…
Bindung – an Familienangehörige, Partner*innen, Freunde – spielt in unserem gesellschaftlichen Leben eine sehr große Rolle. Sie ist so grundlegend wie die Luft zum Atmen. Die emotionale Bindung sichert das Überleben und die Entwicklung eines Säuglings. In den 1950er Jahren zweifelte der Psychiater John Bowlby an, dass Kinder Organismen ohne tiefere emotionale Bedürfnisse seien. Als „Bindungstheorie“ bekannt geworden, ist dies der Grundpfeiler der modernen Bezeichnung der Mutter-Kind-Bindung. Er beschreibt das Bindungssystem als ein angeborenes und genetisch verankertes Programm. Bindung ist eine hochkomplexe, interaktive Wechselwirkung zwischen Bezugsperson und Säugling.
Die Bindungsperson stellt den sicheren Hafen des Kindes dar
Was brauchen Kinder von ihren Bezugspersonen? Liebe, Wärme, Zuneigung und Zuwendung, Anregung, Zuverlässigkeit, Beständigkeit. Was hat das Fehlen ebendieser zur Folge? Ängstliche, depressive und bindungsunfähige Erwachsene. Wurden Kinder längere Zeit im stationären Setting betreut, siechten sie an Hospitalismus dahin und verstarben an diffusen Infektionen, die in keinerlei Zusammenhang mit ihren herkömmlichen Erkrankungen standen.
Die primäre Bezugsperson ist in den häufigsten Fällen die leibliche Mutter, die durch eine gute Stillbeziehung bereits Wärme und Geborgenheit erfahren lässt. Durch Trennung wird das Bindungsbedürfnis aktiviert, durch körperliche Nähe wieder beruhigt. Oxytocin, bekannt als DAS Kuschelhormon, ist die Bestätigung für Liebe und Vertrauen.
2019 fanden Forscher heraus, dass bei Erwachsenen, die frühe intensive Bindungen erfahren haben, das Oxytocin- System besser hochregulieren können und stabilere Beziehungen eingehen. Zudem besitzen sie die Fähigkeit, herausfordernde Situationen selbstsicher zu meistern. Es hemmt Bereiche des Gehirns, um Angstzustände zu minimieren und sorgt für Ruhe und Entspannung. Oxytocin steigert des Weiteren die soziale Kompetenz und das Gemeinschaftsgefühl. Das Spannende ist aber, dass es nur gegenüber Unseresgleichen prosozial agieren lässt, aber niederträchtiger gegenüber jedermann sonst. In Studien wurde unlängst gezeigt, dass bei Autismus-Spektrum-Störungen niedrigere Oxytocin-Werte vorherrschen bzw. die zuständigen Rezeptoren ganz abgeschalten waren.
Der Wunsch nach Bindung ist ein menschliches Grundbedürfnis
Vielfältige Ursachen, wie massive Vernachlässigung, emotionale, sexuelle und körperliche Gewalt, führen bei Kindern zu instabilen Bindungsmustern, die sich in erhöhter Risikobereitschaft, Gewaltausbrüchen, Suchtsymptomatiken und Enthemmung äußern können. Beobachtung von häuslicher Gewalt zwischen Bezugspersonen aktiviert die sogenannten Spiegelneurone des Kindes und es kommt zu einer massiven Aktivierung des Bindungssystems. Es erlebt den körperlichen Schmerz des betroffenen Elternteils, als wäre es sein eigener. Die Gefühle von Ohnmacht und Angst führen in weiterer Folge zu Aggressivität, wenn keine adäquaten Copingstrategien erlernt wurden.

Resilienzförderung und -entwicklung

Die Wechselwirkung der genetischen Disposition und frühen Erfahrungen bestimmt die Stärke der Ausprägung emotionaler Reaktionen. So reagieren Menschen unterschiedlich auf negative Erlebnisse. Einige erholen sich relativ rasch wieder von traumatischen Situationen, während bei anderen diese unverarbeitet bleiben und dauerhaft auf ihr emotionales Befinden einwirken.
Die Entwicklung einer sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind ist die Grundlage für eine angepasste physische, psychische und soziale Entwicklung. Eltern und Kinder sollten bereits ab den ersten Lebensstunden mittels Bonding (Haut zu Haut-Kontakt) unterstützt werden, so dass dieser äußerst notwendige Entwicklungsschritt gelingt.
Auch neue sichere Bindungserfahrungen im weiteren Lebensverlauf geben Menschen die Möglichkeit, einen resilienten Alltag und zwischenmenschlichen Umgang zu leben.
Bindung und Resilienz gehen Hand in Hand – Prägung endet nicht in der Kindheit
Resilienz ist somit das Produkt eines Nervensystems, das imstande ist, sich mit Leichtigkeit zwischen dem Verbindungsmuster und dem Schutzmuster zu bewegen. Keines der autonomen Zustände ist besser als das andere. Keines der beiden Muster ist besser als die anderen, sondern in adaptiv zu differenzieren. Das heißt, wir reagieren auf eine Situation um zu überleben und jede Verhaltensweise ergibt einen Sinn. Sie tragen zur Alltagsbewältigung und zum Erhalt der körperlichen und geistigen Gesundheit bei.
Berührungen sind eine der grundlegendsten Kommunikationsmethoden. Es findet dadurch eine Übertragung der neuronalen Zustände statt. Eine angenehme Berührung gibt uns das unwillkürliche Gefühl der Verbundenheit und ein essenzieller Bestandteil unseres Wohlbefindens darstellt. Ein Agieren aus dem Schutzmodus heraus übermittelt die Botschaft „Gefahr!“, die der Empfänger auch wahrnimmt und selbst in den Schutzmodus verfällt.
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