Das Konzept der neuen Autorität
Ein Ansatz für moderne Erziehung und Führung
Autor*innen: Daniela Weidinger und Manfred Fragner
Was ist die „neue Autorität“?
In einer Welt, die sich ständig verändert und zunehmend von digitalen Medien und schnellen Kommunikationswegen geprägt ist, stellt sich die Frage, wie Autorität in Erziehung, Schule, Familie und Arbeitswelt aussehen sollte. Die klassische Vorstellung von Autorität, die häufig auf Macht und Kontrolle basiert, scheint zunehmend überholt. Hier setzt das Konzept der „neuen Autorität“ an, das von dem israelischen Psychologen Haim Omer entwickelt wurde. Es bietet eine innovative Perspektive auf Autorität und legt den Fokus auf Respekt, Selbstreflexion und die Förderung eines kooperativen Miteinanders. Doch was genau steckt hinter diesem Konzept und wie kann es in der Praxis umgesetzt werden?
Weg von strengen Durchsetzern – hin zu Begleitern
Die „neue Autorität“ ist ein ganzheitliches Konzept, das sich sowohl auf zwischenmenschliche Beziehungen als auch auf soziale und emotionale Entwicklungen konzentriert. Es basiert auf der Idee, dass Autorität nicht aus der Fähigkeit, Macht auszuüben oder Strafen zu verhängen, gewonnen wird, sondern aus der Fähigkeit, in Beziehung zu anderen Menschen zu treten und eine respektvolle, verbindliche und klare Haltung einzunehmen. Ziel der neuen Autorität ist es, die Bindung und das Vertrauen zwischen den Beteiligten zu stärken und durch eine liebevolle, konsequente Haltung Konflikte zu lösen, anstatt sie zu eskalieren.
Im Mittelpunkt der neuen Autorität steht der aktive, aber gewaltfreie Dialog. Autoritätspersonen – sei es in der Familie, der Schule oder am Arbeitsplatz – übernehmen nicht die Rolle von strengen Durchsetzern, sondern werden zu Begleitern, die den Dialog suchen und die Entwicklung ihrer Mitmenschen fördern. Dabei geht es nicht nur um den Einfluss auf das Verhalten, sondern auch um die Förderung von Eigenverantwortung und Selbstständigkeit.

Die 7 Säulen der neuen Autorität
1. Präsenz & Wachsame Sorge
„Ich bin da und bleibe da.“ „Ich werde nicht nachgeben.“ „Ich kämpfe um dich und nicht gegen dich.“ Die Entscheidung, anwesend zu sein, im guten Kontakt mit mir selber, respektvoll, wertschätzend und gewaltfrei den anderen Personen gegenüber, das bedeutet im Sinne der Neuen Autorität wirklich präsent zu sein und dabei als Erwachsener die Verantwortung für die Beziehungsqualität zu übernehmen und für die Einhaltung unserer Werte & Regeln des Zusammenlebens einzustehen. In Konfliktfällen intensiviert man den Kontakt. Dies geschieht nicht durch noch mehr reden oder Gespräche, sondern durch persönliche Nähe, klare Widerstandsbekundungen gegenüber ungewolltem Verhalten und vielem mehr (vgl. Körner et al., 2019, S.32) Die „Wachsame Sorge“ ermöglicht uns, aufmerksam und wachsam zu sein und bei Alarmsignalen die notwendigen Schritte einzuleiten, damit es gut weitergehen kann.
2. Selbstkontrolle & Eskalationsvorbeugung
Sich selbst zu kontrollieren kann erlernt werden. Selbstkontrolle ist eine wichtige Säule der neuen Autorität, die bedeutet, rechtzeitig aus dem Kampf auszusteigen ohne aufzugeben. „Wir kommen darauf zurück“, bedeutet wir geben nicht nach, geben dich aber auch nicht auf, wir bleiben an dem Problem daran, „schmieden das Eisen aber erst wenn es kalt ist“. Im Moment ist es wichtig zu stabilisieren, nicht zu siegen. Aus dieser Haltung heraus gelingt es ruhig und besonnen zu bleiben. Wir müssen nicht siegen sondern nur beharren! Wir dürfen auch Fehler machen! „Ich kann nicht machen, dass deine Wut aufhört, aber ich traue dir zu, dass du es mit der Zeit schaffen kannst, deine Wut etwas in Kontrolle zu bekommen.“ Wir wollen und können niemanden wirklich kontrollieren. Doch wir können entscheiden, wann wir auf eine Provokation, einen Konflikt reagieren (Prinzip Aufschub). Wenn wir in Auseinandersetzungen gewinnen wollen, Recht haben wollen, tragen wir oft dazu bei, dass die Situation eskaliert. Nicht besiegen, sondern beharren! (Prinzip Beharrlichkeit)
5. Versöhnung & Beziehung
Erziehung durch Beziehung. Beziehung ist die wichtigste Ressource! Darauf baut jegliche Intervention der Neuen Autorität auf. Wertschätzende Rückmeldungen und vor allem parallel bei Maßnahmen des Widerstandes Gesten der Versöhnung zu setzen, machen deutlich: Wir sind interessiert an dir, an einer guten Beziehung, auch wenn es Schwierigkeiten gibt, wenn das Kind, der Schüler, der Klient problematische Verhaltensweisen zeigt. Du bist uns wichtig, wir wollen dich hier behalten, aber die Gewalt gegen dich und andere muss aufhören. Wertschätzungsgesten sind keine Belohnungen, die an Leistung gebunden sind. Wertschätzung durch ein anerkennendes Lächeln, ein Lob für…. Beziehung gestalten!!!
3. Unterstützungsnetzwerke & Bündnisse
Wir sind nicht allein, wir sind nicht isoliert… Unterstützung nützen und Netzwerke aufbauen ist ein zentraler Aspekt der Neuen Autorität. Ein afrikanisches Sprichwort besagt “Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.“ Menschen und Teams dabei zu begleiten, sich gegenseitig zu unterstützen, jede*r nach seinen Möglichkeiten führt oft zu einer großen Entlastung und Verbesserung der Lebenssituation. Durch die Vernetzung wird der Rücken gestärkt, die vernetzten Personen werden nicht als Koalition gegen sich sondern als Unterstützer und Vermittler wahrgenommen. Gleichzeitig opponieren auch sie gegen gewalttätiges Verhalten.
6. Transparenz
Wir sprechen offen darüber. Partielle oder gänzliche Transparenz kann folgendes bewirken: Sie mobilisiert Unterstützung, bewegt Dritte eine klare gewaltfreie Position einzunehmen. Sie stärkt auch unser Zusammengehörigkeitsgefühl. Transparenz ist öffentlich, einladend, offenlegend aber partiell, d. h. transparent mache ich Dinge nur in der Gruppe mit denen ich auch zusammenarbeiten will, in der Familie mit denen die dem Kind gegenüber wertschätzend sind. Transparenz ist ein wichtiger Faktor für die Prävention. „Ich komme darauf zurück“, dieser Satz eröffnet wieder Räume, Räume in Kontakt mit dem Kind, dem Schüler, dem Klienten zeitlich und inhaltlich. Räume in mir und meiner Reaktion auf eskalierende Situationen.
4. Protest & gewaltloser Widerstand
Ich gebe dir nicht nach und ich gebe dich nicht auf. Gewaltlos bedeutet Aktion, ich muss etwas tun, allerdings ohne dich zu entwerten, dich bloßzustellen, dich zu beleidigen, ohne verbale oder tätliche Gewalt. Widerstand bedeutet wir schauen nicht mehr zu, ab sofort sind wir sozusagen „offiziell“ dagegen. Wir haben viel mehr Gewicht/Stärke, wenn wir mehrere sind, die entschlossen handeln. Bei den Handlungsmöglichkeiten des gewaltlosen Widerstandes geht es vor allem um das Deutlich-& Sichtbarmachen unserer Entschlossenheit und Verbundenheit. Wir sprechen nicht nur von Widerstand bei destruktivem Verhalten, wir SIND der Widerstand. Dies hat eine enorme Wirkung auf das Gegenüber.
7. Wiedergutmachung
Wir handeln – DIE Alternative zu Strafen und Sanktionen! Durch begleitete Wiedergutmachungsprozesse kann es gelingen, bei den betreffenden Personen die Einsicht in das begangene Unrecht zu ermöglichen und sie durch eine Handlung der Wiedergutmachung gleichsam zum guten, konstruktiven Verhalten anzuregen. So kann die Person aktiv einen Beitrag leisten und so wieder vollwertiges Mitglied der Gruppe werden und Geschädigte werden tatsächlich ernst genommen.
Grundsatz: „Wo Schaden entstanden ist muss wiedergutgemacht werden, ich helfe dir dabei.“
Diese Säule wird mit Lebendigkeit gefüllt vor allem durch den einen Satz: „Was kannst du tun damit wieder Gutes in die Welt kommt“. Wir schreiben miteinander einen Brief in dem das Fehlverhalten und der Schaden klar benannt wird, der Verursacher übernimmt damit die Verantwortung und bietet an eine Geste der Versöhnung an, z.B. eine soziale Tat (kreative Einfälle!)
Bei der Wiedergutmachung ist es wichtig das Tempo herauszunehmen, der Brief darf in Etappen entstehen. Wichtig sind zwei Teile: Verantwortungsübernahme UND eine Geste des guten Willens. Wichtig ist auch auf die Transparenz für die Gruppe (z.B. Klasse) zu sorgen – Prävention!!! (http://www.neueautoritaet.at/index.php?id=45)
Anwendung der „neuen Autorität“ in verschiedenen Bereichen
In der Familie
In der familiären Erziehung ermöglicht die neue Autorität Eltern, auf eine respektvolle und achtsame Weise mit ihren Kindern zu kommunizieren. Hier geht es nicht um Dominanz oder Strenge, sondern um eine offene und faire Haltung. Eltern, die sich an den Prinzipien der neuen Autorität orientieren, versuchen, ihre Kinder in den Dialog einzubeziehen und ihnen klar zu zeigen, welche Erwartungen an sie gestellt werden – ohne sie dabei in ihrer Autonomie zu behindern. Die Konsequenz und Klarheit der elterlichen Haltung gibt den Kindern Sicherheit, während die Wertschätzung ihrer Gefühle und Bedürfnisse das Vertrauen stärkt.
Am Arbeitsplatz
Auch im beruflichen Kontext kann das Konzept der neuen Autorität von Bedeutung sein. Führungskräfte, die auf Kooperation und Wertschätzung setzen, schaffen ein Arbeitsumfeld, in dem Mitarbeiter*innen ihre Eigenverantwortung und Kreativität entfalten können. Eine Führung, die nicht nur auf Hierarchie und Kontrolle setzt, sondern auf Vertrauen und Kommunikation, fördert die Zufriedenheit und Produktivität der Mitarbeiter*innen. In Zeiten von Veränderung und Unsicherheit kann eine solche autoritative Führung entscheidend dazu beitragen, dass Mitarbeiter*innen Orientierung finden und in Krisen konstruktiv zusammenarbeiten.
Ein weiteres Anwendungsfeld

In der Schule
kann die neue Autorität dazu beitragen, dass Lehrer*innen und Schüler*innen auf Augenhöhe kommunizieren. Anstatt die Rolle der Lehrperson nur als disziplinarische Führung wahrzunehmen, kann die*der Lehrer*in als aktiver Begleiter verstanden werden, der die Lernenden respektvoll unterstützt und klare, aber gerechte Regeln aufstellt. Diese Haltung fördert ein respektvolles Miteinander und trägt dazu bei, dass sich Schüler*innen sicher und verstanden fühlen, was wiederum ihre Lernmotivation stärkt.
Fazit:
Die neue Autorität als Schlüssel zu einer respektvollen und nachhaltigen Führung.
Das Konzept der neuen Autorität stellt eine zukunftsorientierte Antwort auf die Herausforderungen in Erziehung und Führung dar. Es betont die Wichtigkeit von Präsenz, Kooperation, Konsequenz und Wertschätzung in zwischenmenschlichen Beziehungen. Durch die Betonung auf gewaltfreie Kommunikation und die Förderung von Eigenverantwortung wird eine nachhaltige, respektvolle und gewaltfreie Form von Autorität geschaffen, die nicht nur im familiären Bereich, sondern auch in Schule, Gesellschaft und Berufsfeld zunehmend an Bedeutung gewinnt. Wer die Prinzipien der neuen Autorität lebt, trägt dazu bei, ein Klima des Vertrauens und der Kooperation zu schaffen – und leistet somit einen wichtigen Beitrag zu einer respektvolleren und gerechteren Gesellschaft.
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