Von 0 auf 100 –

mittendrin in der Akutsituation

Lassen sich alle Konflikte verhindern?

Das Wesen vieler Konflikte im stationären Krankenhaussetting liegt darin, dass eine zeitnahe Intervention oft schwerwiegende Folgen für alle Beteiligten verhindern oder wenigstens abmildern kann. Je früher man sich einer eskalierenden Situation stellt, desto weniger Energie ist nötig, um sie unter Kontrolle zu bringen. Wenn sich die Lage bereits zugespitzt hat, lässt sie sich nur noch mit viel Energie und personellem Aufwand in eine gute Richtung lenken. Dieser Tatsache sollten wir uns als Mitarbeiter*innen im Gesundheits- und Sozialbereich stets bewusst sein, um folgender Binsenweisheit entgegenzuwirken: „Wenn ich mich nicht mit der*dem Patient*in beschäftige, beschäftigt sie*er mich.“

Die meisten Eskalationen laufen nach einem bestimmten Schema ab. Die von Glynis Breakwell beschriebene Kurve trifft auf viele davon zu, jedoch nicht auf alle. Es kann auch vorkommen, dass man sich direkt in einer solchen Konstellation wiederfindet, beispielsweise im Ambulanzbereich, wo die*der Patient*in in sehr angespanntem Zustand eintrifft, wenn man zu einem Alarm gerufen wird und auch in der Arbeit mit Kindern können sich Impulsdurchbrüche manchmal von 0 auf 100 entwickeln.

Dazu ein praktisches Beispiel…

Unser fiktiver Patient Emil Weber ist 12 Jahre alt und seit 2 Monaten stationär in einem kinderpsychiatrischen Setting aufgenommen. Bekannt sind eine Posttraumatische Belastungsstörung sowie eine Bindungsstörung, es besteht der Verdacht auf eine frühkindliche Psychose.

Folgende Situation ergab sich eines Tages auf der Station. Emil wirkt am Abend für das Personal anfangs unauffällig. Als eine Pflegeperson laute Geräusche aus dem hinteren Bereich der Station hört, begibt sie sich dorthin. Emil schlägt mit einem Sessel gegen das Glas der Stationstür zum Stiegenhaus. Als die Pflegeperson sich nähert, droht er damit, den Sessel gegen sie zu werfen. Er schreit, dass ihn alle in Ruhe lassen sollen und dass er jetzt sofort nach Hause möchte. Als er ein weiteres Mal gegen das Glas schlägt, geht dieses zu Bruch. Er nimmt eine große Glasscherbe in die Hand und bedroht damit die Pflegeperson.

Mögliche Folgen einer solchen Eskalation

Und so schnell befinden wir uns in einer gefährlichen Situation. Ein spitzer Gegenstand ist im Spiel, mit dem sowohl der Patient als auch das Personal oder auch andere Patient*innen ernsthaft verletzt werden könnten. Offensichtlich befindet sich der Patient in der Krisenphase, um auf die Breakwell-Kurve zurückzukommen, und somit ist die Wiederherstellung der Sicherheit für alle Beteiligten das Gebot der Stunde. Die Gefahr ist groß, dass Emil in die destruktive Phase kippt und den angedrohten Angriff in die Tat umsetzt.

zerbrochene Scherben

Worst Case Szenario

Auto mit Blaulicht

Dies könnte zur Folge haben, dass eine oder mehrere Personen schwere bis hin zu lebensbedrohlichen Verletzungen erleiden. Es könnten der Patient selbst, das Personal oder auch andere Patient*innen betroffen sein. Die Wiederherstellung der Normalsituation würde nur unter großem multiprofessionellem Personalaufwand, Hinzuziehen von Polizei und Sicherheitsdienst möglich sein. Es wären zahlreiche Nachbetreuungsmaßnahmen notwendig, angefangen von Wundversorgung über Nachbesprechungen bis hin zu psychologischer oder supervisorischer Nachbetreuung, um das traumatische Erlebnis zu verarbeiten.

Aber es könnte auch anders laufen…

Stichwort Tertiärprävention! Auf Grund der Tatsache, dass sich der Patient bereits seit zwei Monaten auf der Station befindet, kennen ihn die diensthabenden Pflegepersonen schon sehr gut. Es gab bereits ähnliche, wenn auch nicht so gefährliche, Situationen. In standardisiert erfolgten Nachbesprechungen mit dem Patienten, konnten Auslöser und Mechanismen eruiert werden, die bei ihm zu aggressivem Verhalten führen können. Diese wurden im Rahmen der Bezugspflege mit dem Patienten gemeinsam bearbeitet, Lösungsstrategien wurden identifiziert und Skills davon abgeleitet.

Es ist bekannt, dass Emil lieber zuhause sein würde und ihn der Stationsalltag oft überfordert. Besonders in der Abendsituation empfindet er das Heimweh besonders stark. Die Pflegeperson schafft es eventuell, unter Einhaltung eines ausreichend großen Abstandes, den verbalen Kontakt zu Emil wiederherzustellen und ihn dazu zu bringen, die Glasscherbe zur Seite zu legen. Erst wenn diese Sicherheit gegeben ist, können unterschiedliche Handlungsoptionen angeboten werden. Diese gehen von der Schaffung einer Rückzugsmöglichkeit, über die gezielte Anwendung von Skills oder Gesprächstechniken bis hin zu Ablenkung und gegebenenfalls einer Bedarfsmedikation.

Nach der Akutsituation

Nun befinden wir uns in der Abkühlungsphase und stehen vor der Herausforderung, dass alle beteiligten Personen aufmerksam bleiben, weil das Auftreten weiterer Krisen möglich oder sogar wahrscheinlich ist, bis sich der Patient wieder stabil auf einem niedrigeren Anspannungslevel befindet. Während sich ein bis zwei Personen direkt mit dem Patienten befassen, sind mindestens zwei weitere Personen erforderlich, die sich um die Versorgung bzw. Information der Mitpatient*innen kümmern und die „Aufräumarbeiten“ in die Wege leiten. Die Nachbesprechung mit allen beteiligten Personen, inklusive des Patienten, sollte zeitnah erfolgen, sofern es der Zustand erlaubt.

Das Ziel bleibt wieder in Kontakt zu kommen

Es gäbe natürlich noch viele weitere Varianten, wie diese Situation ausgehen kann, von glimpflich bis hoch dramatisch, wie oben dargestellt. In schlimmsten Fall kann es lebensrettend sein, zu wissen, wo sich ein Fluchtweg befindet, wie ich den Stationsalarm auslöse oder die Polizei verständige – und es gilt daher, sich auf verschiedene Szenarien vorzubereiten, um immer handlungsfähig zu bleiben. Das Erlernen und Trainieren von Deeskalationsstrategien und die Kenntnis von Sicherheitseinrichtungen in der eigenen Institution gehören zum notwendigen „Überlebensrucksack“. Und dann gibt es auch wieder Raum für unseren eigentlichen Auftrag, mit unseren Patient*innen in Kontakt zu kommen oder zu bleiben, um gemeinsam konstruktive Lösungen zu finden.

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